Am Zeitungsstand im Supermarkt stehen die Leser bei ihrer kostenlosen Morgenlektüre. Auch der kleine milchkaffeefarbene Junge ist da, dem ich seit kurzem öfter begegne; er blättert in einem Comicheft. Die Frau, die zu ihm gehört, liest eine der bunten Illustrierten. Sie ist etwa Ende sechzig und trägt an diesem Morgen Schnürschuhe mit Profilsohlen, eine dicke braune Hose, darüber ein dickes graues Kleid und einen schwarzbraunen Mantel. Diese Frau hat irgendwann ein Kind geboren, das es fertigbrachte, einen Sohn wie diesen zu bekommen, der als Sonne durch das Viertel läuft und den Menschen zulächelt, als habe er nicht einmal die Hälfte der deutschen Mentalität geerbt. Ich lungere in der Kosmetikabteilung herum, um mich von dem Kind noch ein wenig bescheinen zu lassen.
Jetzt sieht der Kleine, der auf dem Boden kniet, hinauf zu der Frau. Von seinem Blickwinkel aus sieht er zweifellos kein Gesicht, sondern eine Illustrierte mit Beinen. Das scheint ihm nicht zu genügen, schmeichelnd fragt er: Oma? Die Frau überfliegt mit gierigen Augen die Affären der Prominenz; mehr als zehn Minuten kann sie das nicht tun, sonst muss sie die Zeitschrift kaufen. Oma, sagt der Junge, ich möchte dir was sagen. Die Frau blättert. Oma, sagt das Kind, ich hab dich lieb.
Die Frau gibt einen routiniert klingenden Laut von sich, ein seit Jahrhunderten bewährtes Hmm, das aufdringliche Kinder abwimmelt, ohne dass man sich ihnen widmen müsste. Etwas aber muss durch das Papier gesickert sein, eine Energie, die sich zwischen Scheidungsgerüchten, Seitensprüngen und Todesfällen hindurchschlängelt und bemerkt werden will. Verwirrt hält sie im Lesen inne und schaut sich um auf der Suche nach dem, was da in ihr Leben gekommen ist. Unter ihr wendet das Kind sich befriedigt wieder dem Comic zu. Es hat gesagt, was es zu sagen hatte. Die Frau sieht ratlos die Illustrierte an, als könne sie des Rätsels Lösung in den Seiten finden. Dann schlägt sie enttäuscht die Zeitschrift zu und stellt sie ins Regal.
Die Welt ist voll von nicht empfangenen Liebeserklärungen.
Aus:
Margrit Irgang: „Leuchtende Stille“, Herder Verlag.
Margrit Irgang schreibt Erzählungen, Gedichte und Bücher über Zen und Meditation, fotografiert minimalistisch und betreibt den Blog „die poesie des augenblicks“. Manchmal singt sie im Chor. Aber am liebsten ist ihr die Stille. Sie hat den Traum, als Eremitin mit Katze und Gärtchen zu leben, noch nicht aufgegeben. Für ihre Arbeit erhielt sie u. a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Bayerischen Literaturpreis und den Münchner Literaturpreis.
Margrit Irgang
die poesie des augenblicks
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