Meditation über den Zebrastreifen

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Ich will niemandem böse.
Ich bin für die Artenvielfalt. Ich liebe Kakadus und Van-Katzen und Dschungarische Zwerghamster und Zebras. Ich liebe es, wenn es anderes und andere gibt.
Ich will niemandem böse. Aber ich mag nicht gendern.
Die Gründe sind ganz harmlos: Ich halte das Gendern nicht für nötig. Denn das generische Maskulinum (die allgemeine Männlichkeitsform) benennt Frauen nicht nur „mit“, es meint Männer wie Frauen gleichermaßen: „Frauen sind die entspannteren Bruchpiloten.“
Im Deutschen sind alle Plurale weiblich: Der Mann, die Männer. Da könnten sich die Männer ja auch nur „mitgemeint“ fühlen in einem weiblichen Kosmos der Vielheit. Zugegeben, der Vergleich ist ziemlich schief. Aber solche Schieflagen bestimmen die Gender-Diskussion aufs Abenteuerlichste. (Und das könnte manchmal schon wieder lustig sein.)

Mein anderer Grund gegen das Gendern wäre: Gendern ist hässlich. Beim Glottisschlag bekomme ich Hühnerhaut. Ich liebe meine Muttersprache (und eher weniger ein Vaterland, das ich als Tochter von Vertriebenen so nicht habe). Meine Sprache ist mein Daheim. Vielleicht tut mir deshalb das Brechen eines Wortes durch eine I-Majuskel, einen Asterisk oder einen Doppelpunkt weh. Ästhetik darf, nicht nur für eine Schriftstellerin, sondern für jeden Menschen, ein Argument sein.

Ich will niemandem böse! Ich möchte Frauen achten und Männer und Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen. Im Tierreich gibt es genug überzeugende Beispiele dafür, dass die Grenzen zwischen den Geschlechtern fließend sind. Nehmen wir den Flammenfahnen-Barsch. Stirbt im Schwarm das Weibchen, das die Eier legt, wird das nächstgrößte Männchen weiblich und übernimmt seine Funktion. Oder denken wir an die Schnecke, die hermaphroditisch liebt. Oder an die Seepferdchenmänner, die schwanger werden und dann aus ihrem Bauch eine Wolke von winzigen Seepferdchenkindern ins Meer entlassen. Es gibt viele andere Beispiele.

Mein Problem: Ich mag autoritäre Strukturen nicht. Ich werde nicht gerne überfahren.
Leben lassen und leben, wäre meine Perspektive. Niemand muss sich zu einem Geschlecht bekennen und niemand sollte gezwungen werden zu gendern (und damit paradoxerweise Geschlechtergrenzen erst zu markieren).

Manchmal werde ich melancholisch, wenn ich an einem Zebrastreifen stehe.
Schon seit Kindertagen liebe ich Zebrastreifen, vielleicht nur wegen des Wortes. Wie Gänsefüßchen sind sie ein schönes Bild, das mit dem, was sie bezeichnen, relativ wenig zu tun hat. Das macht ihre poetische Kraft aus.
Ein Zebrastreifen ist ein so viel schöneres Ding als ein Fußgängerüberweg.
Nach neuen Regeln (wer hat über sie entschieden?) müsste ein Fußgängerüberweg ein Fußgänger:innenüberweg sein. Das wäre nicht überzeugend. Aber konsequent. (Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich, als reinen Gegenzauber, einmal eine klassische Erzählung durchgendern.)

Aber wie sieht es mit der Diversität beim Zebrastreifen aus? Tierhaut! Leicht ein Affront. Und auch sonst gefährlich. Ziemlich abgründig. Schwarz, weiß, schwarz, weiß, schwarz und weiß. Schon sehe ich am Bordstein die Pinguine stehen. Zwergpinguine, Königspinguine, Felsenpinguine, Eselspinguine, Brillenpinguine, auch die Tristanpinguine sind gekommen. Sie schwenken ihre Fahnen. Ja, haben sie nicht allen Grund, beleidigt zu sein?
Müssten nicht auch Pinguine, schwarz, weiß, schwarz, weiß, benannt werden bei einer gesellschaftlich so zentralen Institution wie dem Zebrastreifen. Zebringuinübergang?

Regenwolken ziehen auf. Und auf einmal regnet es.
Regen, Regen, wir stehen mitten im Regen. Himmel hilf, diese Wörter, sie machen sich selbständig. Sie sind gefährlich. Wer jetzt nicht aufpasst und rückwärts ins Palindrom stolpert, kommt kaum heil über den Zebrastreifen.

Dieser Text wurde am 28.11.2022 in der FAZ publiziert.

Angelika Overath ist 1957 in Karlsruhe geboren. Sie hat über die Farbe Blau in der modernen Lyrik promoviert, drei Kinder geboren, Reportagen, Essays, Romane und Gedichte geschrieben. Nach Jahren in Tübingen und Thessaloniki lebt sie seit 16 Jahren in Sent, Unterengadin. Hier wird Vallader, ein Idiom des Rätoromanischen, gesprochen. Im Frühjahr 2022 kam „Schwarzhandel mit dem Himmel/ Marchà nair cul azur“, ihr dritter zweisprachiger Gedichtband, heraus.
Während mehrerer Monate am Bosporus entwickelte sie den Roman „Ein Winter in Istanbul“ (2018). Im April 2023 erschien „Unschärfen der Liebe“ (Luchterhand), der zweite Teil ihrer Istanbul-Trilogie. Sie hegt eine Liebe zu den heilenden Kohlpflanzen; ihrem Knie widmete sie ihr literarisches Sachbuch „Krautwelten“ (Insel-Bücherei). Mit ihrem Mann führt sie in Sent eine Schreibschule Sent.
Angelika Overath (Wikipedia)
Angelika Overath bei Literaturport

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Angelika Overath, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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