Im Dunkeln ist es mitunter sicher
die Sicherheit mitunter gefährlich
wie bei den Zikaden unter der Erde
Zikaden können nicht wählen, wo sie leben wollen,
aber wann, das bestimmen sie selbst
Im Mikrosystem der Erde wirken Dinge,
die der Mensch nicht kennt:
Wasser. Futter. Schlaf. Membran. Wurzel.
Noch verstecken sie sich, im Sommer werden sie laut
die Luft vibriert von ihrem
endlosen Geplapper
Dort gibt es gewöhnlichen Kummer
gibt es einfaches Glück
unbedeutend scheint alles, und doch
ist es anders
(Diese Erfahrung, die nicht zu greifen ist,
wie sollen wir sie begreifen, benennen?)
Im Dunkeln ist es nicht immer gefährlich
die Gefahr lauert mitunter im Licht
Ihr Menschen, die ihr oberhalb der Erde lebt …
Wollt ihr euch der Geschichten erinnern?
Die Gründe für den Aufstand erfahren?
Wollt ihr gemeinsam voranschreiten
gemeinsam geduldig warten?
Mir träumte von Zikaden, wie sie
aus der Erde hervorbrechen.
Noch unveröffentlicht.
Aus dem Chinesischen übersetzt von Alice Grünfelder.
Tsai Wan-Shuen wurde 1978 auf Penghu geboren, einer Insel westlich von Taiwan gelegen. Sie lebte einige Jahre in Frankreich, wo sie Bildende Kunst studierte. Seit 2004 erarbeitet sie mit dem Sound-Artist Yannick Dauby, ihrem Mann, diverse Video-Sound-Installationen. Mit ihren Arbeiten zur Insel Penghu und den indigenen Volksgruppen Hakkas und Atayal wurden sie 2016 zur Sydney Biennale eingeladen. Tsai Wan-Shuen spricht mit ihren beiden Kindern Taiwanisch, ihre Muttersprache, und begann auch ihre Gedichte in dieser Sprache zu schreiben; eine Sprache, die während der japanischen Besatzung und des vierzig Jahre andauernden Kriegsrechts unterdrückt worden war. Ihr Werk – seien es Installationen und Videos, sei es die Lyrik – ist geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Meer und der Welt der Inseln.
Bisherige Veröffentlichungen: „潮 汐“ (Flut, 2006) und „感官編織“ (Verwobene Gefühle, 2021).
Ihre Gedichte sind 2024 auf Deutsch erschienen bei Hochroth Leipzig „Küsten“ und „Im Meer aufwachen“ beim Drachenhausverlag.
Alice Grünfelder. Buchhändlerlehre und Studium der Sinologie und Germanistik in Berlin und China, lange Jahre Lektorin beim Unionsverlag in Zürich. Seit 2010 unterrichtet Alice Grünfelder Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Schreibt am liebsten dokufiktionale Texte. Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen. Ihr Roman Wüstengängerin erschien 2018, ihr Essay Wird unser MUT langen 2019. Wolken über Taiwan stand 2022 auf der Hotlist der Unabhängigen Verlag. 2023 erschien ihr jüngster Roman Jahrhundertsommer (dtv). Zusammen mit Mine Dal komponierte sie den Text-Foto-Band schön&glücklich (2023). Diverse Auszeichnungen, u.a. nominiert für den Irseer Pegasus Preis, Werkjahr der Stadt Zürich.
Alice Grünfelder
Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Tsai Wan-Shuen.