es ist noch lange nicht morgen und noch längst nicht hell
als der mann aufschreckt
vom geschrei irgendwelcher wiesenvögel
das ist im januar
er wohnt in der innenstadt
in einer wohnung mit blick auf einen gepflasterten hof
der mann steht auf
geht leise von zimmer zu zimmer
bis er überzeugt ist wach zu sein
in der küche gießt er sich milch in ein glas
sitzt am tisch mit dem glas in der rechten hand
er hört seinem atem zu
bis er ihn nicht mehr vernimmt
Aus:
Sjón: næturverk / nachtarbeit.
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer.
Der zweisprachig edierte Band erschien im April 2024 im ELIF Verlag.
Sjón wurde 1962 in Reykjavik geboren und ist ein gefeierter isländischer Autor. Für seinen Roman Der Schattenfuchs gewann er den Literaturpreis des Nordischen Rates (das Äquivalent der Nordischen Länder zum Man Booker Preis) und der Roman Das Gleißen der Nacht wurde sowohl für den International IMPAC Dublin Literary Award als auch für den Independent Foreign Fiction Prize nominiert. Der Roman Der Junge, den es nicht gab erhielt den isländischen Literaturpreis. Sein Werk CoDex 1962, ein Roman in drei Büchern, wurde 2016 in Island mit großem Erfolg veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe erschien 2020 im S. Fischer Verlag.
2023 wurde Sjón für sein Werk mit dem Nordischen Preis der Schwedischen Akademie (kleiner Nobelpreis) geehrt. Als Dichter, Librettist und Texter veröffentlichte er mehrere Gedichtbände, verfasste Opernlibretti und Liedtexte für verschiedene Künstler. Im Jahr 2001 wurde er für seine Texte im Film Dancer In The Dark für einen Oscar nominiert. Sjóns Romane wurden in 35 Sprachen übersetzt. Er ist Präsident des Isländischen PEN und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Reykjavík.
Sjón
Sjón (Wikipedia)
Jón Thor Gíslason, geb. 1957 in Hafnarfjörður, lebt seit Anfang der 1990er Jahre als Bildender Künstler in Deutschland, derzeit in Düsseldorf. Bis 1988 war er professioneller Popmusiker in Island, danach absolvierte er ein Aufbaustudium (Meisterklasse) an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart. Er arbeitete zeitweise als Korrespondent in Deutschland (Kunst und Kultur) für die isländische Tageszeitung Morgunblaðið. In Zusammenarbeit mit Wolfgang Schiffer veröffentlichte er diverse Übersetzungen isländischer Lyrik, vor allem für den ELIF Verlag.
Jón Thor Gíslason
Wolfgang Schiffer, geboren 1946 in Nettetal/Niederrhein, arbeitet als Übersetzer, Herausgeber und Autor von Prosa und Lyrik. Zuletzt erschienen im ELIF Verlag sein Gedichtband Dass die Erde einen Buckel werfe, die Anthologie Türschwellenkinder – Über die Arbeit der Eltern (hrsg. mit Dinçer Güçyeter) sowie die Übersetzung Lose Blätter von Ragnar Helgi Ólafsson (mit Jón Thor Gíslason). Für 2024 sind folgende Publikationen vorgesehen: der Gedichtband Gespräche mit dem Enkel, mit Illustrationen von Jón Thor Gíslason (Corvinus Presse), die Übersetzung Nachtarbeit von Sjón (Gedichte, zus. m. Jón Thor Gíslason) sowie der Gedichtband Ich höre dem Regen zu (beide ELIF Verlag).
Wolfgang Schiffer erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen, u. a. 1991 das Ritterkreuz des Isländischen Falkenordens und 1994 den Isländischen Kulturpreis für seine Verdienste um die Vermittlung isländischer Literatur und Kultur. Er lebt in Köln und Prag.
Wolfgang Schiffer
Gemeinsam gestalten Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer außerdem die Reihe Wortlaut Island in der Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin, die zweimal im Monat Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik aus Island vorstellt.
Die Rechte am Originaltext liegen beim Autor, die der deutschen Übersetzung beim Verlag. Die Bildrechte am Foto liegen bei Wolfgang Schiffer, am Layout bei Arnd Schäfer.
birting
það er langt til morguns og enn lengra í að birti af degi
þegar maðurinn hrekkur upp
við köll mófugla
þetta er í janúar
hann býr í miðborginni
í íbúð sem snýr að hellulögðum garði
maðurinn fer á fætur
gengur hljóðlega milli herbergja
uns hann hefur sannfærst um að hann sé vaknaður
í eldhúsinu hellir hann sér mjólk í glas
situr við borðið með glasið í hægri hendi
hann hlustar á andardrátt sinn
þar til hann greinir hann ekki lengur