Nachts

Aus dem Alltag

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Still ist es am Wolfersberg und die Nacht trägt stolz ihr dunkelstes Gewand. Durchs offene Fenster fällt eisige Luft ins Wohnzimmer, kullert aufs Parkett, wälzt sich träge am Boden. Eine versprengte Schneeflocke verirrt sich in den Raum und verliert ihre Existenz, noch bevor sie den Boden berührt. Genug der Elemente, die Welt muss draußen bleiben, denke ich mir und schließe das Fenster. Herinnen singt Hans Theessink. Er tut es leise, denn Doris schläft im ersten Stock. Wie rücksichtsvoll von ihm. ‚Shall I cast my dreams upon your love, babe? And lie beneath the laughter of your eyes?’ Theessinks dunkle Stimme driftet durch das Zimmer, füllt es aus, verliert sich erst im letzten Winkel des Abstellraums, wo sie mit dem Wischmop und der Schaufel kollidiert und neben dem bunten Plastikkübel zu liegen kommt.
Schwere Worte sind es, die er leichthin singt.

‚It’s snowin‘ on Raton. Come morning I’ll be through them hills and gone.‘ Das Lied, es ist von Townes Van Zandt. Der so talentiert war für die Musik und so unbegabt fürs Leben. Der es nur mit Rauschmitteln ertragen konnte und doch nie ein rechtes Maß zu ihnen fand. Der am Neujahrstag des Jahres 1997 die letzte Passhöhe nahm. Er starb mit zweiundfünfzig. Ich stehe auf, gehe in die Küche und fülle mein Rotweinglas. Kehre zur Couch zurück, stelle den Zweigelt vom Moritz auf den Tisch, greife nach dem Athen-Reiseführer, der mich ungeduldig erwartet. Horche auf Theessinks unerhört eindringliche Stimme, die mir mahnend zuraunt: ‚Bid the years good-bye you cannot still them. You cannot turn the circles of the sun. You cannot count the miles until you feel them. And you cannot hold a lover that has gone.’
Ich lege den Reiseführer wieder beiseite und greife nach dem Wein.

Nein, die Zeit, sie lässt sich nicht anhalten. Wann haben die Jahre begonnen, ihre mitunter hässlichen Spuren an uns zu hinterlassen? Wo haben sie angefangen? Mein Nackenschmerz ist mittlerweile chronisch geworden. Die Zähne werden auch nicht besser. Und meine jüngste Errungenschaft auf dem weiten Feld des körperlichen Niedergangs ist der konstante Pfeifton in meinem rechten Ohr. Ein Accessoire, auf das ich glatt verzichten könnte. Ich nehme noch einen kräftigen Schluck. Wo ist die Kraft der Jugendjahre abgebogen?, frage ich mich. Wann kam die Einsicht, dass das Leben endlich ist? ‚It’s snowin‘ on Raton‘, singt Theessink abermals. ‚Come morning I’ll be through them hills and gone.‘

Dann verstummt er und lässt mich allein mit meinem Tinnitus. Kein grantiger Hund bellt seine Wut in die Kälte, die Haustechnik zelebriert eine Schweigeminute. Nicht einmal der Eiskasten wagt einen brummenden Kühlversuch. Die Welt um mich ist maßlos still.
Bis auf den schrillen Dauerton in meinem rechten Ohr.

Hans Theessink leistet mir wieder Gesellschaft und stimmt das nächste Lied an. Die Umwälzpumpe der Gastherme beendet ihre Siesta. Ein Windstoß faucht gereizt ums Haus. Ich beschließe, das Pfeifen zu ignorieren. Das funktioniert zuweilen, es ist dezent genug. Ich gehe in die Küche, gönne mir ein zweites Glas von diesem grandiosen Zweigelt. Kehre zur Couch zurück, greife erneut nach dem Reiseführer. Horche auf Theessinks warme, unvergleichliche Stimme.
Dann beginne ich zu lesen.

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