Ohne Erinnerung

Gastbeiträge

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Sein Weg hatte im Winter begonnen. Und als der Schnee schmolz, die Tulpen blühten und Eltern bunte Eier für die Kinder versteckten, war der Mann ohne Erinnerung immer noch unterwegs. Er ging, lief, schlenderte, pausierte auch, verlor sich aber immer wieder in universalen Betrachtungen. Er sah sich um, er hörte sich um. Eine Uhr hatte er nicht dabei.

Mit der Zeit wurde ihm warm und sein Mantel lag ihm jetzt über der Armbeuge. In einem See schwammen Kinder. Und wie der Mann so am Eigentlichen der Welt vorüberzog, zog doch eigentlich die Welt an ihm vorüber, wie ein sich ständig erneuernder Film.
Als der Sommer schließlich endete, regnete es. Und als der Mann ohne Erinnerung das Felsgebirge dann erreicht hatte, schneite es schon.
In einem dieser Felsen befand sich eine Höhle. Diese Höhle aber besaß keinerlei Portal. Sie führte in die Dunkelheit. Und noch ehe er hätte überlegen können, brachen alle Wege hinter ihm. Immerhin trug ihn noch die Erde. Und der Weg in die Dunkelheit der Höhle stand ihm frei.

Er lächelte, ohne zu wissen, warum, und betrat die Höhle. Nur war es so, dass, je dunkler es um ihn wurde, desto heller wurde es ihm auch. Schnee flimmerte, Regen, alle möglichen Tulpen flirrten farbig vor sich hin, dazu die Vielfarbigkeit von Ostereiern, die Spielfläche eines Sees, die Mineralien eines Felsgebirges, einer Höhle inmitten …
Und langsam, ganz langsam erinnerte er sich.
Kurz bevor er starb, war alles da.

Constanze John, 1959 geboren. Leipzigerin mit Leib und Seele. Reiseschriftstellerin, die sich auch der Prosa und Lyrik verschrieben hat. Arbeitet für Hörfunk und Bühne und ganz besonders gern mit Kindern und Jugendlichen.
Zuletzt erschienen: „40 Tage Aserbaidschan“, Verlag DuMont Reise, 2020. Nach „40 Tage Armenien“ und „40 Tage Georgien“ das dritte Buch, das sich dem Kaukasus widmet, der groß und vielfältig ist. Und voller Geschichten steckt.
Aktuell arbeitet die Autorin an einem Buch über den georgischen Maler Pridon Nizharadze, der in Uschguli, Swanetien lebte; zugleich, wie es auch seine Gemälde zeigen, „wie in anderen Welten“. Der Arbeitstitel lautet: „Pridon und die Urgestalten. Aufzeichnungen aus Uschguli“.
Constanze John

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Constanze John, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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