Es ist vier Uhr morgens, aber das wissen sie nicht. Die Bahnhofshalle ist auch bei Tag ohne Licht. Seit wann sie hier sitzen und wie lange noch, spielt jetzt keine Rolle. Er zieht seine Hände wieder weg und er weiß, daß er gehen müsste, aber er kann nicht. Er trinkt Kaffee, sitzt auf diesem Stuhl und ist schwer wie Blei. Gerade konnte er sich kurz wieder daran erinnern, dass er sie geliebt hat.
Von all ihren Freunden und Bekannten waren sie die einzigen, die es wirklich geschafft hatten. Sie kannten sich aus der Uni. „Komm, ich zeig dir was“ hatte sie damals gesagt. Er setzte sich hinten auf ihre Vespa und sie fuhren zum Meer. Vor einem verfallenen Haus mit verwildertem Garten hielt sie an. „Hab ich geerbt.“
Sie kämpften sich durch die Brombeeren und als sie auf den Dachboden stiegen, saß eine Eule im Fenster. Später konnten sie der Tochter erzählen, daß sie gezeugt wurde unter den Augen der Eule.
Sie bauten, hatten nie Geld und studierten mit Baby. Irgendwann war das Haus fertig. Dann ein Ferienhaus zum Vermieten und dann noch eins. Es gab Enten, Johannisbeeren und Kirschbäume.
Die Tochter war zehn, sie saßen abends am Bodden und merkten, daß sie es geschafft hatten.
„Eigentlich sind wir zu jung dafür“, sagte sie. „Was machen wir denn jetzt?“ Er sah sie an, „Na leben!“ Es sollte furchtlos klingen, aber irgendwas war an diesem Moment nicht geheuer.
Sie wollte segeln, reiten und verreisen. Er wollte schreiben und Fische räuchern und sich um alles kümmern. Manchmal fragte er sich, was er ohne ihr Erbe angestellt hätte mit seiner ganzen Kraft.
Die Winter waren manchmal einsam, die Tochter manchmal anstrengend, aber die Sommer voller Menschen. Dann ging die Tochter studieren in der Stadt und kam nur am Wochenende. Da waren sie erst Anfang vierzig. An Sommerabenden saßen sie am Lagerfeuer mit Freunden und Feriengästen, tranken Bier, aßen Geräuchertes, fuhren betrunken mit dem Boot raus und sprangen ins Wasser. Danach kuschelten sie sich am Steg zusammen in eine Decke und sahen die Sonne aufgehen. Die Meeresluft hatte ihnen die Gesichter gegerbt.
Schließlich sagte sie: „Warum schläfst du eigentlich nicht mehr mit mir?“ Er zuckte die Schultern, stand auf und ging rein.
Sie ließen sich eine Weile in Ruhe, lebten nebeneinanderher, hatten ihre Arbeit und schienen zufrieden. Aber immer öfter kotzten ihn die ganzen Feriengäste an, die alles so traumhaft fanden. Er konnte es nicht mehr hören. Je bunter alles blühte, umso mürrischer wurde er. Er hatte jetzt das Gefühl, nicht das Recht zu haben sich in diesem Paradies abzuschotten vom Rest der Welt. Obwohl er es selbst gebaut hatte, kam es ihm vor, als hätte er diesen Traum nie bezahlt.
Gestern Morgen wachte er auf, sah seine schlafende Frau neben sich und hörte am Hafen ein Schiff ablegen. Er wollte weg.
Er ging runter zum Bodden und wusste plötzlich: Das ist nicht mehr sein Paradies. Er hatte sich immer vorgestellt, wie glücklich er sein würde, wenn alles fertig wäre. Aber das Glück war schon vorbei, als alles fertig war. Es fing an zu verwelken. Sie fingen beide an, darin zu verwelken. Der Plan war erfüllt, aber das Glück wollte nicht mehr mitmachen.
Auf den Wellen schob sich der Schaum zusammen mit Dreckrändern wie ein faltiges Hundefell. Das Unglück wollte sich in seinen Körper fallen lassen und ihn lähmen.
Er sah übers Wasser und dachte, daß der Wind und die Wellen ihr Glück heimlich weggetragen hatten.
Beim Frühstück sah er sie an und es war, als würde jemand anders aus ihren grünen Augen blicken. Fast hätte er vor Schreck gefragt: wer bist du? Als wäre unbemerkt ein Fremder in ihrem Körper eingezogen.
Sie fuhr zur Arbeit ins Gymnasium und wusste, daß etwas passiert war mit ihm. Sie hatte Angst und versuchte, sich abzulenken.
Er auch. Es ging nicht. Er stand auf, um sich Essen zu machen, ging aber stattdessen zum Schrank und fing an, einen Koffer zu packen. Er fand ein Hemd, das er vor dreiundzwanzig Jahren getragen hatte, als er hier angekommen war. Er kam sich jetzt gefangen vor im eigenen Paradies und wusste, er würde heute eine Entscheidung treffen, die nicht zu diesem friedlichen Ort passte.
Er packte sein Notebook ein und überlegte, was er noch brauchen würde. Er stand in dem sonnendurchfluteten Arbeitszimmer, sah den Bodden durchs Giebelfenster und kam sich verloren vor.
Nichts. Er brauchte nichts weiter.
Sie sah sein Auto vorm Gymnasium stehen, kam auf ihn zu, als hätte sie ihn erwartet. Als er das letzte Mal hier stand, fuhr ihr Bus nicht, wegen der Schneemassen. Das war vor ein paar Monaten. Jetzt dachte er daran und wusste, daß es nie wieder vorkommen würde. Er holte sie heute zum letzten Mal ab und es war, als wäre sie gestorben. Oder war er gestorben? Sie kam lebend auf ihn zu, mit zwei Beinen und einem Gesicht, das die Zähne zusammenbiss. Er versuchte, sie als fremde Frau zu betrachten, sie war schön, aber er konnte mit ihr nichts anfangen. Sie sah seinen Koffer auf der Rückbank, stieg ein und er fuhr Richtung Bahnhof.
Das war gestern Nachmittag. Seitdem sitzen sie hier, reden und schweigen und spielen seit Stunden dasselbe Spiel: Sie weint, er nimmt ihre Hände, sie sieht ihn flehend an, er zieht die Hände wieder weg und guckt in seine leere Tasse.
Ein junger Mann im Dirndl, geschminkt mit angeklebten Wimpern, der schon die ganze Nacht auf jemanden zu warten scheint, geht am Tisch vorbei. Sie sehen ihm hinterher, wie er über den dreckigen Bahnhof stöckelt. In der Ecke liegt ein junges Pärchen auf Koffern schlafend, mit aneinander gekippten Köpfen.
Überm Bodden geht bald die Sonne auf, denkt er und sieht auf seine Uhr. Sie sehen sich an und verstehen einfach nicht, wie sie in diese grausame Situation geraten konnten.
Ein Zug fährt ein mit quietschenden Bremsen.
„Du bist mein Leben!“, schluchzt sie. „Das ist mir aber zu viel“, flüstert er.
„Wir könnten doch auch zusammen weggehen“, sagt sie mit erstickter Stimme. Er schüttelt den Kopf, „Ich liebe dich einfach nicht mehr.“ Sie hält wieder die Hände vor ihr Gesicht.
Dem Spielablauf folgend müsste er jetzt nach ihren Händen greifen. Er hat den Reflex, lässt aber die Hände sinken diesmal.
Stattdessen schiebt er den Autoschlüssel über die Tischplatte. Sie nimmt den Schlüssel, steht auf, sieht ihn nicht mehr an, er sieht ihr nicht mehr hinterher.
Sie fährt durch die morgendlich leeren Straßen, durch Dörfer, durch das lange Waldstück und dann sieht sie das große salzige Wasser. Tränen hat sie jetzt keine mehr. Sie spürt, daß sie den Schmerz einschließen kann, verriegeln, sodaß er sich nicht mehr durch ihre Brust bohrt. Ein Gedanke kommt und hilft ihr: weiterleben ist auch eine Möglichkeit.
Er sitzt noch am Trennungstisch, hört einen Zug einfahren und spürt, wie es ihn gewaltsam hineinzieht. Er ruft die Kellnerin, die sich schon zu lange nicht mehr an seinen Tisch getraut hat.
„Ich möchte bezahlen. Alles zusammen.“
Franziska Hauser, geboren 1975 in Berlin Pankow, ist Autorin und Fotografin. Sie hat zwei Kinder und zwei Enkel. Studium Bühnenbild und freie Kunst an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Studium Fotografie an der Ostkreuzschule bei Arno Fischer; Stipendium der Stiftung Kulturfonds. 2015 erschien ihr Debütroman „Sommerdreieck“ im Rowohlt Verlag, wofür sie den Debüt-Preis der lit.COLOGNE erhielt und für den ZDF Aspekte-Preis nominiert wurde. Zeitgleich erschien im Kehrer Verlag der Fotobildband „Sieben Jahre Luxus“.
Ihr zweiter Roman „Die Gewitterschwimmerin“ (Eichborn Verlag 2018) wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2018 Gewinnerin des Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerbs. Im selben Jahr Gründung der monatlichen Lesebühne „Des Esels Ohr“ (gemeinsam mit Kirsten Fuchs, Susanne Schirdewahn und Barbara Weitzel). Ihr dritter Roman „Die Glasschwestern“ erschien 2020 (Eichborn Verlag).
Sie schreibt und fotografiert für Das Magazin, Berliner Zeitung, FAZ, taz, Die Welt u.a.
Der vierte Roman „Keine von ihnen“ erschien im April 2022. Ebenfalls bei Eichborn.
Franziska Hauser
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