Wieder aufzuwachen. Den Stimmhall einer Ärztin im Ohr: daß dein EKG aussehe wie die Nordsee. Um dann abends auf die Normalstation verlegt zu werden. Wo die Narkosedämonen, sobald du die Augen schließt, aufsteigen aus ihren Mandalalandschaften und Farbstrudeln. Irgendwann endlich der Schlauch aus deinem Geschlechtswurm gezogen wird. In diesen ersten drei Tagen. Du darfst nicht allein die paar Schritte aufs Klo gehen, wirst gestützt von einer Schwesternschülerin. Bis es ein Fortschritt ist, es allein zum Waschbecken zu schaffen. Du dich selber waschen kannst. Von dieser Kraftanstrengung aber wiederum schweißgebadet ins durchgeschwitzte Laken sinkst. Auch das wäre also eine Erfahrung, die du hier machen sollst: dem Tatterigen, dem Körpergreis in dir, der dich erwartet, erstmals zu begegnen. Mit den wackligen Wanderungen den Gang entlang vorm Krankenzimmer, rauf und runter, entfliehst du ihm. Du darfst dabei nicht auf den Boden schauen, der dich schwindeln läßt. Sondern immerzu voraus, in die Ferne, hin zum Massiv, das eine blaue Sitzgruppe ist.
Noch unveröffentlicht.
Walle (Walter-Hermann) Sayer, 1960 geboren. Kindheit und Jugend im Schatten des 1478 erbauten und 60 Meter hohen Bierlinger Kirchturmes, der mit seiner Höhe „ein Veto ragt ins amtierende Licht“. Lebt und schreibt in Horb am Neckar. Veröffentlicht seit 1984 Gedichte und Prosa. Verschiedene Auszeichnungen, zuletzt: Basler Lyrikpreis 2017 sowie Gerlinger Lyrikpreis 2018; 2020/2021 erhielt er ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds.
Zuletzt erschienen: „Das Zusammenfalten der Zeit“, Prosagedichte und Erzählminiaturen, Kröner Edition Klöpfer 2022, „Nichts, nur“, ein Auswahlband, Kröner Edition Klöpfer 2021, „Mitbringsel“, Gedichte, Klöpfer 2019 und „Was in die Streichholzschachtel paßte“, Feinarbeiten, Klöpfer&Meyer 2016.
Walle Sayer
Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Walle Sayer, die Bildrechte bei Doris Lipp.