Vermutlich war es keine kluge Idee. Er zögerte einen Moment, schloss die Augen und holte tief Luft. Griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und drückte, bis es wehtat. Die Welt steckte voller dämlicher Ideen, sagte er sich, da käme es auf eine mehr nicht an. Er konnte nicht wissen, wie sehr er sich irren sollte.
Und wie richtig er lag.
Gudrun Leutgeb war ungeduldig. Langsam war sie es leid, ihre Zeit mit Warten zu verbringen, einer Tätigkeit, die ihr immer schon entbehrlich erschienen war. Sie versuchte, an nichts zu denken, doch das Geräusch des Regens, der an die Fensterscheiben schlug, machte sie rasend. Ihr Blick fiel auf die Wanduhr, deren monotones Ticken ihr Unbehagen noch unterstrich. Unwillkürlich presste sie Ober- und Unterkiefer aufeinander und verzog den Mund zu einem Lächeln, das ihr reichlich schief geriet. Sie schüttelte den Kopf. Nein, das hätte sie sich nie gedacht. Vieles hatte sie sich vorstellen können, was das Leben für sie bereithalten mochte. Hatte manches erwartet wie einen lästigen Gast, dessen Besuch es geduldig zu ertragen galt. Aber dass ein Schlaganfall ihr die Autonomie rauben würde, die ihr so wichtig war, damit hatte sie nicht gerechnet.
Niko hatte recht gehabt, mit Schlössern kannte er sich aus. Die Eingangstür war kein Problem gewesen, es hatte keine zwanzig Sekunden gedauert. Vermutlich war es keine kluge Idee, dachte er abermals und blickte sich um. Dann trat er in die Wohnung.
Wie sehr sie diese Fremdbestimmtheit hasste. Dieses Ausgeliefertsein. Diese unbedingte Abhängigkeit von anderen war das Schlimmste, schlimmer noch als das eigene körperliche Unvermögen. Sie sah auf den Teller, den sie nur halb aufgegessen hatte. Kalbsbutterschnitzel mit Kartoffelpüree. Früher, da war das ihr Lieblingsessen gewesen. Aber dieses Früher, es lag in einer Zeit, in der man sie nicht füttern musste. Speichel sammelte sich in ihrem rechten Mundwinkel und mühsam versuchte sie, den linken Arm zu heben, die Finger zum Mund zu führen. Den Speichel von ihren Lippen zu wischen, bevor er in dünnen Fäden auf ihre Bluse tropfen würde.
Da sah sie ihn.
Irgendetwas stimmte nicht. Es war leise in der Wohnung, aber es war nicht die Art von Stille, die eine leere Wohnung atmen sollte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und als er auf seine Unterarme schaute, bemerkte er die Gänsehaut. Er machte drei flinke Schritte den Flur entlang. Konnte in das geräumige Zimmer sehen, in dem die alte Frau am Esstisch saß. Und im selben Moment, in dem er begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte, einen, der alles zunichtemachen konnte, begann sie zu schreien. Er musste handeln.
Schnell.
Walter Scherak war ein kräftiger Mann. Und er war geschickt. Einen Sinn für Geschäftstüchtigkeit besaß er freilich nicht und so kam es, dass er Altenpfleger wurde, was, wie er fand, weder soziale Anerkennung zur Folge hatte noch eine angemessene Bezahlung, mochten die Sonntagsreden auch anderes behaupten. Nun gut, dachte er, die Dinge waren nicht zu ändern. Nicht von einem wie ihm.
Er genoss diesen kurzen Moment der Ruhe, sah auf das kleine Waschbecken, das vor ihm an der Wand hing, und fragte sich, warum das Krankenhaus den Termin der alten Leutgeb so kurzfristig verschoben hatte. Es war ein Jammer, wie sie litt. Dass es ihr nicht und nicht besser gehen wollte. Aber auch das, schien es, war nicht zu ändern.
Er wollte gerade den Spülknopf drücken, als er sie schreien hörte.
Scherak riss die Toilettentür auf. Traf den laufenden Eduard Riha mit voller Wucht, brach ihm die Nase doppelt, schlug ihm zwei Vorderzähne aus. Der taumelte rückwärts, stolperte und fiel. Verlor noch im Fallen das Bewusstsein, merkte nicht, wie er mit dem Hinterkopf auf die grässlich scharfe Kante des Schuhkastens schlug. Walter Scherak hörte einen schrillen Schrei, ein dumpfes Knacken und dann nur mehr das leise Wimmern der Gudrun Leutgeb.
Regen trommelte gegen die Fensterscheiben.
Die Wanduhr vermeldete die volle Stunde.