Sackgasse

Aus dem Alltag

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Trüb der Tag, schattenlos. Regen dann, als sie die Grenze passiert zur alten Heimat, die sich, allen Mühen, allem Wollen zum Trotz, nie anfühlen mochte wie ein Zuhause. Aus der sie wegzog, vor Jahrzehnten schon. In der das Elternhaus steht, immer noch.

Der Besuch bei den Eltern: überfällig längst. Acht Wochen, dass der Vater aus dem Krankenhaus zurückgekehrt ist zur Mutter, die dement ist, alt, schwierig. Dass sie den Bruder, die Schwägerin verprellt hat mit ihrem Nicht-Können, sie den Hörer aufgelegt hat mitten im Gespräch. Eine Flucht war es, das weiß sie. Unumgänglich zwar und doch: eine Flucht. Endlos, scheinbar, der Reigen aus Vorwürfen und Selbstzweifeln. Nutzlos auch. Noch sechshundert Meter bis zur Autobahnabfahrt. Sie wechselt auf die rechte Fahrspur, bremst, fährt ab. Kurz der Impuls, gleich wieder aufzufahren auf die Autobahn, heimwärts. Sie widersteht, beschleunigt. Regen prasselt in dicken Tropfen auf die Windschutzscheibe.

Die Mutter, die die Tür öffnet, sie anstrahlt, an sich drückt, fest, ihr über den Rücken streicht, über den Hinterkopf. Sie lässt es geschehen. Hat es immer geschehen lassen. Wo ist Vater? fragt sie, löst sich aus der Umarmung, die ihr Umklammerung ist. Er liegt im Wohnzimmer, sagt die Mutter, deutet in den Nebenraum. Tut so, als sei er krank, sagt sie, lacht.

Der Vater wirkt schwach. Alt. Er, der immer kräftig war. Voller Leben. Auf der Couch liegt er, auf der er auch schläft, nachts, seit Monaten schon, weil keine Ruhe mehr zu finden ist im elterlichen Bett, wo sich die Mutter herumwälzt, aufsteht, niederlegt, mit Stimmen spricht, die nur in ihrem Kopf existieren, ihn wachrütteln will jede Stunde. Du bist es, sagt er mit brüchiger Stimme, will sich aufrichten, kann es nicht, lässt es sein. Es geht mir gut, sagt er. Ich raste bloß. Diese Stimme, denkt die Tochter: als käme sie aus dem Mund eines Sterbenden. Augenblicklich, dass sie sich schämt für diesen Gedanken, den Blick abwendet, hin zur offenen Tür, wo die Mutter vorbeischleicht, verstrickt in ein düsteres Zwiegespräch.
Ja, ich bin es, sagt sie also. Fragt nicht: Wie geht’s dir wirklich? Wozu eine Lüge provozieren? Eine weitere. Der Vater, müde, schließt die Augen, zwingt sie wieder auf. Lächelt.

Warum nicht ins Heim, Papa? fragt sie. Warum sich so quälen? Die Mutter kommt ins Zimmer, schreit: Hör nicht auf diesen Drecksack! Er lügt, will mich loswerden, ins Irrenhaus stecken will er mich. Sie fährt sich mit der Hand übers Gesicht, dreht sich um, verschwindet im Nebenzimmer. Stille flutet den Raum, sie schmeckt nach Verzweiflung. Er wisse um ihre Krankheit, flüstert der Vater. Könne ihr nicht mehr Herr werden, weil ihm die Kraft fehle, das wisse er auch. In ein Heim aber wolle er nicht. Dieser Drecksack! schreit die Mutter im Nebenraum. Spuckt die Silben aus, einzeln, hart fallen sie zu Boden. Als wären sie aus Stahl geschmiedet, denkt die Tochter.

Die Mutter vor ihr, am Küchentisch, auf dem Platz, wo immer der Vater saß. So eine Freude! sagt sie, schaut die Tochter an, streckt die Hand aus, streicht ihr über die Wange. Die Tochter weiß nicht, was sie sagen soll. Nichts, das weiß sie, wird sich verfangen in diesem löchrigen Netz der Erinnerungen. Alle zehn Minuten dasselbe reden aber: das kann sie nicht. Sie will lächeln, es misslingt ihr. Er hasst mich ja, sagt die Mutter. Er ist ein Teufel. Und dann: hörst du das auch? Die Frau, da draußen, die sagt: Mach dir keine Sorgen? Die Tochter schaut in das Gesicht ihrer Mutter, dieses alte, von Sorge, Angst, Wut gezeichnete Gesicht. Schüttelt den Kopf, sieht zu Boden. Sie will ihre Hand nehmen, sie drücken, sagen: Ja, Mama, mach dir keine Sorgen, die Stimme, deine Stimme, hat recht. Du wirst sehen: alles wird gut. Sie will es, will es wirklich. Kann es nicht.

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