Saharastaub

Gastbeiträge

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Das Leben entscheidet sich zumeist auf schmucklosen Fluren. Es ist die Macht der Sperrholztische, der Sessel aus Buchenholz, der grauen PVC-Böden und der weißen Wände. Hohe Deckenlampen, eine Plastikbox mit Spielzeug, Stille. Viel mehr gibt es nicht in diesen Fluren der Geburtenkliniken, der Standesämter, der Krankenhäuser und der Gerichte. Ein Fenster vielleicht noch, durch das man den Himmel sieht. Als wäre letzten Endes alles dem Funktionalen unterworfen. Wir stehen in einem dieser Flure, mein Klient und ich. Der Flur gehört zum Bundesverwaltungsgericht Wien, mein Klient kommt aus dem Iran, sitzt zusammengesunken auf einem Buchenholzsessel, das Gesicht in den Händen vergraben, die langen Haare über den Schultern, und betet das Vaterunser.

Sie wird gleich verkünden, hat die Richterin gesagt, wir mögen draußen Platz nehmen, noch kurz warten. Nach vier Jahren, hat sie hinzugefügt, käme es auf zehn Minuten auch nicht mehr an. Das Lächeln war ihr misslungen, und nun fürchtet mein Klient eine negative Entscheidung in seinem Asylverfahren.
Aus dem Eingangsbereich, wo die Sicherheitsleute ihren Aufenthaltsraum haben, kommen Nachrichten aus dem Radio. Das Land werde von Saharastaub überzogen, dieser färbe den Himmel braun und rot, bedecke Fenster und Autos, komme manchmal auch als Regen herab. Blutregen. Sichtbar aber nur in Vorarlberg.

Zwei Anrufe auf meinem Mobiltelefon, den dritten drücke ich weg, denn die Richterin wird uns bald wieder hineinrufen. Ich sehe zu der weißen Tür des Verhandlungssaals hinüber. Als der Anruf ein viertes Mal hereinkommt, hebe ich ab.
Der Anrufer ist aufgeregt, den Tränen nahe, seine Stimme überschlägt sich. Sein Lebensgefährte aus Nigeria sei in Schubhaft genommen worden, heute früh, in der Polizeistation um die Ecke, als er seiner täglichen Meldepflicht nachkommen wollte. Er müsse da bleiben, hätten die Polizisten gemeint und mit einem Bedauern, das ehrlich geklungen habe, hinzugefügt: Leider. Nun sei der Lebensgefährte in Schubhaft. Was solle man machen, was könne man machen, jetzt, sofort? Er dürfe nicht zurück nach Nigeria, dürfe nicht abgeschoben werden, es würde seinen Tod bedeuten.

Ich rufe bei der Asylbehörde an, erreiche den zuständigen Referenten, aber es ist schon zu spät.
Wann, frage ich.
Der Nigerianer sei gleich nach der Festnahme zum Flughafen gebracht worden, sagt der Referent. Der Flieger sei schon weg. Jetzt gerade über den Alpen, fügt er noch hinzu.
Die Erwähnung der Alpen hat einen seltsamen Klang, das fällt nun auch dem Referenten auf und er verstummt.
So, sage ich und beende das Gespräch. Man weiß, wann man verloren hat.

Die Tür zum Verhandlungssaal öffnet sich. Ich stecke das Mobiltelefon wieder ein. Mein iranischer Klient erhebt sich von seinem Sessel. Seine Hände zittern.
Die Richterin bittet uns, Platz zu nehmen. Sie breitet die Arme aus, wirkt gelöst, es klappt nun besser mit dem Lächeln.
Im Namen der Republik, beginnt sie, erteilt meinem Klienten Asyl. Er darf in Österreich bleiben, nach vier Jahren des Wartens. Als die Richterin fertig gesprochen hat, ist es für einige Sekunden still, weil es für den Moment nach einer Verkündung keine rechtlichen Stehsätze gibt, wenn die Macht des Funktionalen gebrochen ist. Der Klient ist überwältigt, kämpft mit den Tränen.

Später möchte er mir um den Hals fallen, aber wir geben einander nur die Hand. Ob ich morgen im Büro bin, er hätte noch ein paar Fragen.
Ich bin immer da, sage ich.
Er hört mich nicht mehr, läuft, rennt fast aus dem Gebäude, aus dem Flur. Ich bleibe dort zurück, ordne meine Unterlagen, packe sie in meine Aktentasche.
Aus dem Radio kommen wieder Nachrichten. Im Nahen Osten gäbe es neue Kampfhandlungen. Tausende Flüchtlinge würden erwartet.
Jetzt zum Sport.

Daniel Zipfel, geboren 1983 in Freiburg, lebt und arbeitet in Wien. Als Jurist vertritt er Flüchtlinge im Asylverfahren, als Schriftsteller erzählt er von Vernunft und Gerechtigkeit, von dem menschlichen Versuch, die Geschicke der Welt lenken zu wollen. Er ist Mitglied der Grazer Autor*innenversammlung und Absolvent des Instituts für Narrative Kunst.
Romane: Die Wahrheit der anderen (Kremayr und Scheriau, 2020), Eine Handvoll Rosinen (Kremayr und Scheriau, 2015)
Daniel Zipfel

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Daniel Zipfel, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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