welchen Text ich in letzter Zeit auch immer begonnen habe /
er war nicht zu einem Ende zu bringen /
egal in welcher Sprache / egal in welcher Form /
er hätte täglich fortgeschrieben werden müssen /
als Logbuch des Untergangs / als Wehgesang / als Schrei
angesichts des Wahnsinns in dieser Welt /
eines Wahnsinns / von Menschen / von uns gemacht
und auch wenn ich es bis jetzt nicht aufgegeben habe /
dieses Schreiben / dem sich jeder Schluss verwehrt /
so frage ich mich / wie lange werde ich´s noch können?
ich bin doch schon müde / erschöpft von den Versuchen /
ich spüre doch schon / wie mich die Kraft verlässt
darum bitte ich / wenn dies jemand liest bis hierher /
nehmt mir die Bürde ab / schreibt Ihr weiter /
haltet fest / wie wir alles daran setzen /
die Welt zu vernichten / uns selbst zu verlöschen /
und wenn ich früher einmal sagte /
dass die Möwen nun höher hinauf flögen /
und wir kleiner werdend aus ihrem Blick /
an Bedeutung verlören / so tun sie dies wohl immer noch /
nur dass es mir heute kein Trost mehr ist
haltet fest / dass die Erde immer
noch keine Buckel wirft / um uns von sich zu werfen /
obwohl sie schon brennt / und wir nichts dagegen tun /
schreibt weiter / schreibt / dass wir hingegen
alles tun / sie im Osten im Westen /
im Süden im Norden / in jedem Winkel /
den sie hat / dass wir alles tun / sogar das All /
ja selbst den ganzen noch unentdeckten Kosmos /
zur Leere / zum Nichts zu machen
vielleicht findet ja einmal eine künstliche Intelligenz die Notate
und lässt sie etwas tun / wozu / befähigt sie zu dem / wozu
wir schon lange nicht mehr fähig sind: sie weint …
Aus:
Wolfgang Schiffer: Dass die Erde einen Buckel werfe. ELIF Verlag, März 2022
Übersetzungen erfuhr der Text bisher ins Isländische (erschienen in Ljóðbréf – Poesiebrief – Nr. 5, Tunglið Forlag, Juni 2022) und ins Russische (erscheint in der Zeitschrift „westnik jevropy“ – etwa: Europäischer Bote – August 2022).
Wolfgang Schiffer, geb. 1946, arbeitete seit 1976 zunächst als Hörspieldramaturg beim WDR, die letzten zwanzig Jahre bis zu seiner Pensionierung 2011 war er in leitender Position für Hörspiel, Radio-Feature und Literatur zuständig. Immer schon ist er auch als Herausgeber sowie als Übersetzer aus dem Isländischen tätig gewesen; er veröffentlichte und schreibt Hörspiele, Theaterstücke, Prosa und Lyrik. 2022 erschienen die deutsch-isländische Ausgabe eines Lyrikbandes von Dagur Hjartarson, „Schnee über den Buchstaben“, und sein eigener Lyrikband „Dass die Erde einen Buckel werfe“ (beide ELIF Verlag). Neben anderen literarischen und kulturellen Auszeichnungen ist er Träger des Ritterkreuzes des Isländischen Falkenordens. Er lebt in Köln und Prag.
Wolfgang Schiffer betreibt den Blog „Wortspiele“ sowie in der Online-Literaturzeitschrift „Signaturen-Magazin“ zusammen mit dem isländischen Maler Jón Thor Gíslason die Reihe „Wortlaut Island“.
Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Doris Lipp.