Und behüte uns vor deinen Erinnerungen

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Erinnerungen kehren gerne als Bildtableaus wieder, prägten sie sich uns ein, oftmals weil wir über uns selbst oder andere staunten. Oder weil uns die emotionale Textur des Erlebnisses auch weiterhin beschäftigt.
So treffen uns manche Reminiszenzen – auch Jahre später noch – gleich einem Bumerang, lassen uns Stirnbeulen und Hämatome zurück, die wir erstaunt wahrnehmen, ob vergangener Zeit, vergessend, dass die Zeit der Erinnerungen anders verstreicht als die unsere.

So ergeht es mir mit einem Ereignis, welches seit seiner Realitätswerdung (und folglich: seiner Existenz), wieder und wieder in mein Bewusstsein zurückkehrt, greife ich – ja, es mag lächerlich klingen, wie das Leben eben manchmal lächerlich ist: – nach meiner Puderdose. Selbst wenn diese mit dem Ereignis an und für sich nur den Tag gemein hat …
Ich war frühmorgens aufgebrochen, im Nieselregen, um an jenem Ort, an dem ich abends einen Auftritt zu absolvieren hatte, im Drogeriemarkt mattierendes Puder zu erstehen, da meines mir bei der Anreise im Zug zu Boden gefallen war, der kompakte Knopf Geschichte wurde – schöne Sauerei am Hosenbein.

An diesem verhangenen Morgen starrte die Kleinstadt, die ich aus meinen gymnasialen Schuljahren wie meine Westentasche kannte und fluchtartig mit meiner Volljährigkeit verlassen hatte, noch immer grau und unfreundlich, verschlafen aus der Wäsche. Feinripp-Trägerhemdchen, jede Wette, und dunkelblaue Hosenfadesse zu mittelblauen Hemden. Wehe dem, der anderes wagt.

Mein Regenschirm malt mir rötliche Schatten auf die Hand, ich bin zu früh dran, noch hat der Laden nicht geöffnet. »Was für ein Wetter, dem kann man doch nur mit fröhlicher Farbe begegnen, da haben Sie ganz recht!«, sagt eine Bassstimme neben mir. Ich sehe hoch. Blicke in ein Gesicht, die Augen mit Kajal umrandet, grüner Lidschatten, Mascara für lang geschwungene Wimpern, kirschrot die Lippen, der Bartschatten mit einer Foundation abgedeckt, Beige Doré würde ich tippen; dunkelblauer Südwester samt Friesennerz mit winzigen Ankerhaken in Weiß, Rocksaum, Feinstrumpfhose, blaue Gummistiefel mit roten Booten. Ich – grinse? Oder habe ich vernehmlich aufgelacht? Ich weiß es nicht mehr zu sagen, erinnere mich nur ganz deutlich, dass im sogleich folgenden Moment die Tür zum Laden geöffnet wurde, eine dunkelhaarige, kleine Verkäuferin das »Sauwetter« beklagte und uns hereinbat. Ich ringe mit meinem bereits recht mitgenommenen Regenschirm, dessen Speichen sich lieber ineinander verheddern, statt sich schmal zu falten, sodass der Riemen sich nicht und nicht schließen lassen will. »Bitte, könnten Sie mich beraten – ich suche einen Lippenstift in leichtem Apricot, der nicht ins Orange kippt. Manche mögen das ja lächerlich finden, aber ich sehe nicht ein, weshalb ich nicht meine weibliche Seite leben soll! Bloß weil andere, die bereits als Frauen geboren wurden, darauf verzichten wollen und morgens ohne Make up und Puder aus dem Haus gehen!«, sagt die Bassstimme. Schon wieder springt der Schirm auf, wischt sich an meinen Strümpfen ab, Regenwasser tropft in meine Schuhe. Weitere Kundinnen betreten hinter mir drängelnd den Laden. Ich sollte – soll ich? Und: jetzt noch? Wie könnte ich jetzt noch sagen, dass mir zum Lachen war, weil ich es so herrlich erfrischend und wunderbar fand, dass selbst in dieser Kleinstadt, die mir einst unerträglich und erstickend eng war, eine selbstbestimmte Lebensgestaltung heute Realität hat? Endlich und viel zu spät, aber immerhin. Dass es mich schlicht freute? Ich kann das doch nicht durch den Laden rufen, bloß weil ich in den erlauschten Worten eine Verletztheit wahrnahm, vermag auch nicht die Sekunde für Sekunde zunehmenden Meter zwischen uns mit ein, zwei Schritten überspringen.

»Natürlich. Wenn Sie sich so fühlen, sollen Sie das tun, wieso nicht«, höre ich die Stimme der Verkäuferin, bevor beide in einen Seitengang abbiegen, aus meinem Blickfeld verschwinden. Als ich bei Make up & Co ankomme, sehe ich sie nicht, nur die tiefe Stimme zieht vernehmlich über die Regalköpfe:
»Danke. Das ist alles!«
Ich drehe mich um, blicke zum Ausgang, sehe die blauen Regenstiefel mit den roten Booten, der Rücken unter dem Friesennerz ist gebeugt, der Kopf hängt. Bis er drei Schritte weiter – die Straße querend – sich hochreckt, Schultern zurück, die Wirbelsäule aufgerichtet, der Scheitel könnte ein Buch balancieren.

Seither denke ich jedes Mal, nehme ich diese Puderdose zur Hand, an das vermaledeite Zögern, Bruchteile einer Sekunde nur, die ich brauchte, um wahrzunehmen, Wörter zu suchen, wenige Momente zu viel, doch verursachten oder verstärkten sie eine Verletztheit, unnötigerweise, und was zu sagen gewesen wäre, sage ich seither jedes Mal in Gedanken: Wie ermutigend! Dass sich selbst hier, in diesem Kaff, die Enge, mit der wir uns das Leben so gerne zur Hölle machen, in Weite aufzulösen beginnt. Es ist eben nicht einzusehen, wozu wir einander mit Schubladen und Etiketten quälen sollten! Sind wir nicht vor allem und alle eines: Menschen! Wozu dann die vermaledeiten Kategorien, Mann, Frau – und ›divers‹ macht es keineswegs besser! Sie sind allesamt nur eine weitere Enge in unserem Denken, eine Schranke. Weshalb sollten wir für unser Menschsein anderes brauchen als Offenheit und Begegnung? Wozu sollten wir anderes benötigen als die Sprache, um in ihr unser Gegenüber miterleben zu lassen, was wir empfinden, wahrnehmen, denken? Damit wir alsdann vielleicht einander wahrhaftig begegnen könnten – statt bloß über Oberflächlichkeiten zu streifen!

Sage es in Gedanken. Den verflixten Regenschirm aber, den warf ich noch an jenem Tag in den Müll. Ich weiß nicht mehr, was ich ansonsten tat, erinnere mich in keiner Weise an die Veranstaltung oder wem ich obendrein noch begegnete, nur an das Gefühl kalter Füße, die Strümpfe regennass in hohen Riemchenpumps, eine Puderdose in der Hand, die zu nichts nutze war. Zumindest nicht für das Wesentliche.

Aus:
Marlen Schachinger: Und behüte uns vor deinen Erinnerungen … Oder: Poetisiert euch, verdammt nochmal! (Manuskript)

Marlen Schachinger wurde im Dezember 1970 frühzeitig und während eines Schneesturms geboren; wohlgemerkt: der österreichischen Variante desselbigen, und wie alles kommt auch so ein Schneesturm hierzulande ein bisschen gemütlicher, ein bisserl lahmer daher als anderswo. Und weil Marlen Schachinger ist, wer sie ist, beobachtet sie, was vor sich geht, und erzählt, liest, liebt, lebt auf ihre Art: nachsinnend, wissbegierig und obsessiv, durchaus auch ungeduldig – und da dies im Präsens formuliert ist, kann wohl der Grammatik folgend angenommen werden, dass sie bislang nicht über den Jordan gegangen ist, hat es auch noch nicht vor, denn an ein jenseitiges Land der Verheißung glaubt sie nicht: Das Bedeutsame kündigt sich kaum je feierlich offenbarend an. Vielmehr schleicht es sich im Nebenher in unser Leben, um schlicht da zu sein. Und will gesehen und in Worten gewogen werden …!
Zuletzt erschienen: »Arbeit statt Almosen« (Doku), »Fragmente: Die Zeit danach« (2020), »Kosovarische Korrekturen« (2019), die Romane »Requiem« (2018), »Martiniloben« (2016), »Unzeit« (2016) sowie »Albors Asche« (2015). Zahlreiche Literaturpreise und -stipendien, zuletzt Magdeburger Stadtschreiberin, Welser Stadtschreiberin, Writer in Residence im Kosovo, Jubiläumsstipendium der LiterarMechana, NÖ Landeskulturpreis – Anerkennungspreis. Lebt, liebt und arbeitet am Arthof in Kleinbaumgarten (NÖ), wo sie auch Gemüsegarten und Tierschar betreut …
Marlen Schachinger

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Marlen Schachinger, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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