Verblüffend. Ist es nicht verblüffend, dass man die wunderbaren Orte in seiner nächsten Nähe oft nicht zu schätzen weiß? Ja, manchmal gar nicht ahnt, was sie zu bieten hätten? So startet denn der brave Polo an jenem schönen Sonntagvormittag im reizenden Waidhofen an der Ybbs und bringt uns flott nach Ybbsitz. Gut, das ist jetzt keine weite Reise, man muss dann nicht – halb tot vor Hunger und der Dehydrierung nahe – sofort beim Kirchenwirten einkehren.
Könnte man aber.
Ich überlege ernsthaft.
Der Polo, er ist jung. Der alte, kaum zehn Jahre auf seinem dunkelblauen Buckel, lehrt jetzt furchtlos zwei L17-Fahrern die große Freiheit auf vier Rädern und ahnt wohl schon, dass harte Zeiten ihn erwarten. Es knirscht und kracht zuweilen im Getriebe und die viele Fahrerei, die ist er auch noch nicht gewohnt. Sei’s drum, denn er hat gelernt: das Dasein ist Veränderung und mit den jungen Leuten lässt sich vielleicht ja doch was sehen von der Welt.
Und nicht bloß ein Garagenstellplatz, die ganze Woche fad als wie.
Verblüffend. Verblüffend auch, dass der brandneue Volkswagen nicht etwa aus Wolfsburg kommt oder aus Salzgitter oder von mir aus auch aus Pamplona, denn dann würden mit den Pferden wahrscheinlich sogar ein paar versprengte Stiere mitlaufen. Nein, er entstammt Südafrika. Hätten wir also doch nicht die Zebrafellbezüge, die Löwenfellfußmatten und das Elefantenhautlenkrad als Extraausstattung nehmen sollen. Gut, die Büffelhörner vorne auf der Motorhaube, die mussten freilich sein. Ein Mensch, der einen Polo fährt, ist ja bekanntermaßen höchst exzentrisch.
Und dass auf der Autobatterie ‚Botswana‘ steht, lässt frohgemut auf wilde Abenteuer und Safari hoffen.
Ybbsitz also. Die Kirchentüren öffnen sich, als sich die Autotüren schließen, und heraus strömt gar nicht wenig Volk. Ich bücke mich und zurre das linke Schuhband fester, die Riemen des in Rom gekauften Schuhwerks, sie wehren sich noch gegen meine ungelenken Knoten. Ein Mann, der grad an uns vorübergeht, grüßt ausgesprochen höflich, bevor die Tür des Kirchenwirts ihn schluckt. Vor uns schmucke Häuser, eins schöner als das andre, als wären wir in einen Heimatfilm geraten. Gibt es Heimatfilme überhaupt noch? Egal. Wir gehen weiter. Vorbei an der ehemaligen Konditorei Hummel, von deren gewesener Existenz nur mehr der blasse Schriftzug an der Wand zeugt und die jetzt einen Altenpflegedienst beherbergt. Bewundern das prächtige Haus eines Hammerherren, der lang schon nicht mehr ist, queren den malerischen Prollingbach und wenden uns dann wieder Richtung Kirche.
Die vier lockenden Gaststätten, die wir in kurzer Zeit passieren, lassen wir schweren Herzens hinter uns. Das Frühstück war recht üppig.
Maria Taferl. Kräuterbitter vom Schüller, ein Tipp für den, der ihn zu schätzen weiß. Der Gin nicht minder, auch wenn die Trinkerei dosiert sein muss. Und draußen, gleich hinter der feinen Brennstube, wo’s ganz wunderbar nach Gin duftet, ein Ausblick schlicht zum Niederknien. Was ich aber unterlasse, weil grad kein Schuhband offen ist.
Wir gehen lieber essen.
Weitenegg. Ein feiner Ort mit einer mächtigen Ruine, die auf dem Hügel hockt, als wäre sie ein urzeitliches Tier. Ein Donauarm greift freundlich in die kleine Siedlung und bietet reichlich Platz für Tätigkeit im Freien, man braucht da keine App dafür. Ein verwaister Badesteg erinnert an einen Sommer, der vergangen ist, und Kinderschaukeln warten stumm auf kleines, munteres Publikum. Drüsiges Springkraut wächst entlang der Wasserlinie und warum es seinen Namen trägt, begreift sofort, wer es berührt. Und unter dem traurig hängenden Geäst einer mächtigen Weide grüßt frontal Stift Melk.
Spitz an der Donau. ‚Ist da nicht der Tausendeimerberg?‘, frag ich die Doris, als ich grad am Spar-Parkplatz den rechten Schuh ein wenig enger schnüre, ich scheine oft zu knien dieser Tage. ‚Dort steht er ja‘, meint sie fidel und weist mit einem Zeigefinger recht bestimmt auf einen Weinberg, der auch nicht anders aussieht als die andern. ‚Von tausend Eimern keine Spur‘, halt‘ ich dagegen. ‚Ja, eh‘, sagt sie, verdreht die Augen bloß ein wenig, fasst mich dann kraftvoll an der Hand und schon sind wir am Weg dorthin, wo Millionen Trauben hängen.
Wir sind noch nicht am Fuß des Hügels, da geht mein linkes Schuhband auf.
Rebzeilen bekleiden pittoresk den ganzen Hang und hinter ihrem satten Grün lugt stolz und prächtig die Burgruine Hinterhaus hervor. Wir bleiben stehen. Schauen auf die Donau hinunter, wo sich die Rollfähre gemächlich Richtung Spitz’sches Ufer schiebt. Schauen stromaufwärts, wo Aggstein hinter einer Biegung lauert wie ein Falke, der auf Raubzug ist. Nach Nordosten, wo schon Weißenkirchen auf uns wartet und uns ganz gewiss mit einem Gläschen Wein bewirten wird. Dann blicke ich nach unten, auf mein Schuhwerk, das anderes Terrain bevorzugt, und klopfe harsch den Staub von seinen Sohlen.
Die Knoten aber, sie sitzen nahezu perfekt.
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