Verwandlungen

Gastbeiträge

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Auf Anhieb kenne ich drei Verwandlungen.
Eine interessanter als die andere.
Über die erste hat jeder schon gelesen oder sie gelesen.
Die zweite ist nicht weltberühmt, aber ein guter hommageartiger Einfall. Eigentlich ein Zweitfall.
Und die dritte? Ein Wunder. Ein einzigartiges.

Nur ein Satz ist in der Weltliteratur berühmter als der folgende: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ (Bekannter nur noch der „Proceß“-Anfang, der respektvoll in der Originalhandschrift zitiert sei: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“) Der Handlungsreisende Gregor Samsa wacht in einen Riesenkäfer verwandelt auf. Die erste Sorge gilt seiner Familie, die er nun nicht mehr ernähren könne. Der Prokurist, der sich nach ihm wegen des Ausbleibens erkundigt, verlässt entsetzt die Wohnung. Zunächst sorgt die Schwester für ihn, doch verwahrlost er zunehmend. Als der Vater mit Äpfeln nach ihm wirft und einer im Rücken steckenbleibt, verursacht dies eine Entzündung. Inzwischen haben die Eltern und die Schwester Arbeit gefunden. Drei Herren leben überdies in Untermiete in der Wohnung. Als Gregor eines Abends seinen Kopf in das Wohnzimmer steckt, beschweren sich die Untermieter, der Vater löst das Mietverhältnis auf. Gregor schleppt sich noch in sein Zimmer, dann stirbt er. „Herr und Frau Samsa“ erkennen in ihrer Tochter jetzt die aufblühende junge Frau und denken „daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen.“ Es waren dies die „neuen Träume“ der Eltern. Franz K. schreibt die Geschichte im Jahr 1912 und meint, „er sei mit ihr nicht unzufrieden, aber ekelhaft ist sie grenzenlos.“

In Paris des Sommers und Herbsts 1974 hat sich der zweiunddreißigjährige Kärntner Peter Handke vom Pop- zum E-Autor, E wie Ernst, verwandelt. In Anlehnung an den Meister hat er ein Buch mit dem Titel „Die Stunde der wahren Empfindung“ und ohne „Gattungsbezeichnung“ geschrieben. „Wer hat schon einmal geträumt, ein Mörder geworden zu sein und sein gewohntes Leben nur der Form nach weiterzuführen?“ Handke schildert zwei Tage im Leben Gregor Keuschnigs, des Pressereferenten der österreichischen Botschaft in Paris. Keuschnig erwacht aus einem langen Traum, mit dem Gefühl, jemanden getötet zu haben und nicht mehr dazuzugehören. Nun reagiert er auf alles mit Ekel und Überdruss. Erst nach der „Stunde der wahren Empfindung“ kann die Welt zurückerobert werden.

Die schönste Verwandlung, der spannendste Formwechsel ist (aber noch immer, vor 1912 und nach 1974, auch dazwischen, egal ob in Prag oder Paris) die Metamorphose der Puppe zum Schmetterling, eines evolutionären Zweigs der Motten, die nicht wirklich beliebt sind. „Die Verwandlung“ ist Weltliteratur, aber die Schmetterlinge sind größer, zum Beispiel der Admiral, die Urania oder das Tagpfauenauge, dessen Pheromon des Weibchens das Männchen auf zwölf Kilometer riecht.

Zwölf Kilometer. Das ist wahre Liebe.

Janko Ferk (* 11.12.1958 in Sankt Kanzian am Klopeiner See / Škocijan v Podjuni, Kärnten) ist ein österreichischer Richter, Wissenschaftler und Schriftsteller. Er ist Richter des Landesgerichts Klagenfurt und Honorarprofessor für Literaturwissenschaften an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt / Univerza v Celovcu. In den Jahren von 1995 bis 2002 war er Vizepräsident des Kärntner Schriftstellerverbands.
Er hält Vorträge an ausländischen Universitäten, darunter der Stanford University in Palo Alto, und war mit einem Referat über Franz Kafka Vortragender auf der Convention 2011 der US-amerikanischen Modern Language Association in Los Angeles. Er hat im In- und Ausland rund zweihundert literarische Lesungen gehalten und in mehr als einhundert literarischen Anthologien in Österreich, Deutschland, Slowenien, den USA und anderen Ländern veröffentlicht. Für die Tageszeitung Die Presse verfasst er regelmäßig Buchrezensionen und Gastkommentare.
Auch ist er Initiator und Mitbegründer des Weblexikons der Kärntner slowenischen Literatur.
Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: „Die Slowenische Riviera. Eine Reisemonografie“, Graz 2022
Janko Ferk (Wikipedia)
Janko Ferk bei Literaturport

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Janko Ferk, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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