Wie fängt alles an?

Gastbeiträge

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Mit freundlicher Höflichkeit, Haltung und Benehmen? Wenn es so einfach wäre. Dann wäre ich vielleicht mit einigem Anstand das kleine nette Mädchen geblieben, das ich nie war. Ich hatte ja früh gelernt, aus welchen Gläsern Sherry und Portwein getrunken, wie ein Tisch millimetergenau eingedeckt und wie die Stoffserviette benutzt wird. Und schon als Kind ließ ich andere ausreden, ohne zuzuhören.

Es gibt Gesten und Gewohnheiten, die den Charakter unrettbar enthüllen und keine noch so gewollten Höflichkeiten können den Verdacht zerstreuen, dass ein Mensch Gefallen findet am Befehlen und Gehorchen, an Machtgier, Geldgier oder Lebensgier. Das Schnippen mit den Fingern nach einer Bedienung. Das Vollschaufeln von Tellern, das hastige Aufknacken von Hummerscheren mit langen Fingern und Stehenlassen von Tellern, auf denen sich die Häppchen türmen. Das Nörgeln und sich Beschweren, gleich wo und wann. Immer mehr scheinen, sein und haben wollen als die Nachbarn.

Es gibt Gesten, die nichts zu tun haben mit individueller Freiheit, sondern nur die Missachtung des Bedienenden, der Untergebenen, der zu Beschützenden, des Liebenden beabsichtigen. Da wird aufgetrumpft, da wird genommen und verschlungen, freudlos vereinnahmt und kein Platz gemacht. Weil ich etwas will, sollen die anderen schauen, wo sie bleiben. Und was ist mit meinen Ellenbogen? Weiß ich sie nicht zu gebrauchen? Vielleicht trete ich leise auf, damit gar niemand merkt, wie weit ich schon gekommen bin. Vielleicht benutze ich meine Höflichkeit als Waffe, um andere als weniger liebenswürdig erscheinen zu lassen. Vielleicht benutze ich mein von Kindesbeinen an geübtes „gutes Benehmen“ als Deckmantel für Absichten und egoistische Ziele. Und sei es, um mein Herz zu verbergen. Vielleicht spiele ich mich?

Aufgewachsen bin ich nach 1945 in der russischen Zone, in der englischen, in der französischen Zone. In jeder Zone galten andere Regeln, andere Vorurteile, wurde anders geredet und gelacht. Ein anderes Benehmen galt als fein. In jeder Zone ein unterschiedlicher Mangel. Meine Familie bestand aus Toten, zurückgekehrten Emigranten, Überlebenden. An großbürgerlichem Verhalten ließ sich auch nicht mit ausgegrabenem Sterlingsilber und größter Höflichkeit anknüpfen.

In der russischen Zone wurde Brot aus Mehl und Sägemehl in dünne Scheiben geschnitten, mit Zichorienkaffee in der Pfanne geröstet. Lange gekaut. Verschlungen wurde fettige Leberwurst mit Sägespänen. Bis zur Übelkeit. In der englischen Zone wurden die wenigen Lebensmittel ordentlich verteilt. Die Städter suchten wie im ganzen Trümmerland überall nach Essbarem, aber die Briten waren höflich, wenngleich unerbittlich gegen Schmuggler. Mich erwischte ein englischer Marinesoldat im Hamburger Hafen mit zwei Bücklingen. Fünf Jahre alt war ich. Der Soldat filetierte sorgfältig den Hering, fütterte mich abwechselnd mit weichem Brot aus einer Armeebüchse und dem Fisch. Den zweiten Fisch schlug er wieder ins Zeitungspapier, begleitete mich bis zum Hafentor und gab ihn mir zurück.

In der französischen Zone waren es die rosigen Schwaben, die vor den Augen der Flüchtlinge geräucherten Speck aufschnitten und aßen. Die lauernden Blicke von uns Kindern störten die Essenden nicht. Selten gaben sie eine der sorgfältig geschnittenen Speckscheiben, die spielerisch halbiert und geviertelt wurden, ab. Erwachsene Flüchtlinge bekamen nicht einmal ein Achtel ab. Die hatte keiner gebeten zu kommen. Kauende Einheimische ließ ich nicht aus den Augen. Und immer öfter bekam ich einen Anteil: Speck, einen halben Bogen von der Brezel und verschrumpelte Äpfel. Die französischen Soldaten hatten nichts zum Teilen, hungerten selbst wie die Flüchtlinge, hamsterten, klauten. Die Strafen der Militärbehörde waren drakonisch.

Die amerikanischen Soldaten kauten mit offenem Mund und waren laut. Sie verschenkten Schokolade und Kaugummi. Sie bissen in ungeschälte Orangen und spuckten Schalen aus. In den überfüllten Zügen besetzten die amerikanischen Soldaten zu zweit oder dritt ein ganzes Abteil, gleich wie viele Flüchtlinge keinen Sitzplatz fanden bei den tagelang andauernden Fahrten. Die Amerikaner fläzten und flegelten sich in den Zügen, auf den Bahnhofsbänken. Meine Mutter sagte, kein Amerikaner kann sich benehmen. Das schlechte Benehmen der Russen entschuldigte sie mit dem Hinweis, dass den Russen unsere Welt fremd wäre. Über die Franzosen, die ich liebte, lächelte sie. Und die Briten liebte sie. Meine Mutter legte Wert auf gutes Benehmen, wie alle in der Familie, aber sie begriff nie, dass zur Höflichkeit auch die Freundlichkeit gehörte, die Achtung vor anderen, eine Zuneigung zu Menschen.

Meine Mutter konnte mich alle Formen des Benehmens lehren, aber nicht quer durch alle Klassen und Schichten mir ihre Tauglichkeit zeigen. Beschützen in der Welt nach dem Krieg, mit Hunger und neuen Spielregeln, konnte sie mich auch nicht. Selten teilt jemand ein Brot aus Höflichkeit oder verschenkt Kartoffeln, weil er sich gut benehmen möchte. Ja, ich war ein perfekt erzogenes, kleines rotlockiges Mädchen. Ich krümelte nicht und beherrschte auch den Handkuss bei alten Damen. Aber ich brauchte noch viele Jahre, um Humor und Achtung zu lernen, mich für die Menschen zu begeistern, egal, was sie mit der Serviette und dem Besteck anstellten.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020) und „Als Queen Elizabeth II. Schnaps im Hafen von Marne trank“ (Geest-Verlag 2018).
J. Monika Walther
Geest-Verlag

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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