Zuflucht

Aus dem Alltag

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‚Time to say goodbye‘, meint Andrea Bocelli, als ich das Lokal betrete. Höchst irritierend, wie ich finde. Doch ich höre nicht auf ihn, gehe am Tresen vorbei, wo mir eine Tageszeitung schrill den neuesten Skandal von ihrem bunten Titelblatt entgegenschreit, und quere couragiert den Gastraum. Dann nehme ich an einem Ecktisch Platz, fege die großen Brösel beherzt von Tisch und Bank und ignoriere die kleinen, die boshaft in den Ritzen der Sitzbezüge lauern. Ich ordere ein Hacker-Pschorr.

Es ist mir schleierhaft, woran es liegt, doch das Lokal, es ist gemütlich. Gedämpftes Murmeln füllt den Raum, ein Kellner huscht vorbei mit prall bestückten Pizzen. Ich luge auf den riesigen Hund, der schräg vor mir gelangweilt an die Decke starrt, bevor er sich im nächsten Augenblick frivol dem Schlaf ergibt. Während ich in der fingerdicken Speisekarte blättere, verdecke ich einen Fleck, der einen prominenten Teil des Tischsets selbstbewusst in Anspruch nimmt, mit zwei Bierdeckeln. Entscheide mich schließlich für die Penne all’arrabbiata und nehme einen tiefen Schluck vom Hacker-Pschorr. Dann greife ich nach Vea Kaisers ‚Rückwärtswalzer‘ und beginne zu lesen.

Am Nebentisch sitzen vier reifere Männer entspannt bei einer Flasche Rotwein und reden über Donald Trump. Sie tun das freilich kenntnisreich, denn ihr Idiom verrät: er ist ihr Präsident. Ich merke schnell, man ist nicht einer Meinung und teilt doch gegenseitigen Respekt und Wein. Der Hund beginnt zu schnarchen. Ich unterbreche die Lektüre und widme mich der Pasta. Sie schmeckt nicht übel, auch wenn ein Italiener – was heftig zu vermuten steht – ein wenig murren würde. Ich nehme einen weiteren Schluck Bier, es schwindet schnell, es wird doch nicht verdunsten? Umberto Tozzi schmettert kraftvoll ‚Ti amo‘, was ich nun keineswegs auf mich beziehe, und der rabiate Charme der Chilis verlangt nach einem zweiten Bier.

Der Platz neben der Küche bleibt wiederum leer. Ich getraue mich auch heute nicht, nach dem Verbleib des alten Mannes zu fragen, der jahrelanger Stammgast war, denn ich fürchte die Unumstößlichkeit des Faktischen. Der aufziehenden Sentimentalität trotzend, widme ich mich wieder dem Buch und lese, wie das Eheleben der Maria Josefa Prischinger mit akutem Zahnschmerz begann. Was weiter folgte, war gleichfalls nicht erbaulich, auch wenn die Qual nicht physisch blieb. Unter dem Tisch von gegenüber regt sich der große Hund, furzt emotionslos, doch nicht eben leise, und dämmert wieder weg. Einer der vier Amerikaner blickt auf, klatscht anerkennend in die Hände und wertet dies als rechten Kommentar zur Lage der Nation. Ich trinke und verschlucke mich am Bier.

‚In questo mondo di ladri‘, klagt Antonello Venditti bittersüß und lebensklug und wer könnte seinen ewig wahren Worten widersprechen? Der Hund jedenfalls zeigt keine Regung und bleibt stumm. Die Gäste wissen das zu schätzen. Zwei Frauen plaudern fröhlich miteinander und spätestens das dritte Gläschen Weißwein hebt profund die ohnehin schon gute Laune. Dann gilt ‚Amerika zuerst‘, das reife Volk vom Nebentisch erhebt sich schließlich und will zahlen. Woher sie stamme, will einer freundlich von der Dame wissen, die zack-zack-zack die Rechnung bringt. Aus dem Irak, entgegnet sie. Und alle vier Mann hoch, die Trump-Anhänger, wie die and’ren, sie geben gutes Trinkgeld. ‚Welcome to Wien‘, sagt sie, bedankt sich höflich, schließt mit flinkem Griff die Kellnerbörse, ist schon fünf Schritte weg vom Tisch. Bleibt dann auf einmal stehen, zögert, dreht sich noch einmal um. Und schenkt ihnen ein Lächeln.

‚Hello, it’s me‘, raunt Adele, als ich durch die Türe trete. Ganz schlechtes Timing, denk‘ ich mir. Wo ich doch grade gehe.

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