‚Nein‘, sagt Leonie und kaut auf ihrer Unterlippe. Sie kaut immer auf ihrer Unterlippe, wenn sie sich einer Sache nicht ganz sicher ist. Und da es ständig etwas gibt, worüber man sich nicht ganz sicher sein kann, ist es eigentlich bemerkenswert, dass sie überhaupt noch eine Unterlippe hat.
Leonie würde sie ganz sicher vermissen.
‚Es ist ja nur für ein paar Tage‘, sage ich und sehe sie an, als wäre ich ein Welpe, der ganz dringend aufs Klo muss. Leonie seufzt und sieht mich an, als wäre sie knapp davor, mich auf einer Autobahnraststätte auszusetzen. Ich kratze mich am Hinterkopf, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll und schaue auf die ungewaschenen Teller, die sich in der Spüle stapeln. ‚Du stellst kein zweites Fahrrad in unser Schlafzimmer‘, sagt sie und sieht recht entschlossen aus dabei.
‚Ganz sicher nicht‘, fügt sie hinzu und kaut auf ihrer Unterlippe.
‚Das ist ein altes Battaglin, Leonie, ich kann das nicht im Hof stehen lassen‘, sage ich und schaue abwechselnd auf meine Freundin und das dreckige Geschirr. ‚Wer stiehlt denn so einen Schrotthaufen?‘, fragt Leonie und zeigt auf ihr rechtes Schienbein, das noch ein wenig versehrt wirkt, weil es vor zwei Tagen mit dem linken Pedal des Mountainbikes kollidiert ist. Ich kratze mich wieder am Hinterkopf. ‚Chris hat mir versprochen, dass ich’s in seine Garage stellen kann, er muss nur noch ein wenig aufräumen‘, sage ich kleinlaut und überlege, ob es der Sache förderlich ist, ein Gespräch über italienische Fahrradproduzenten anzureißen, entscheide mich aber dagegen. ‚In das Ding, das so vollgestopft mit altem Krempel ist, dass sogar die Spinnen Platzangst kriegen?‘, meint sie wütend und schaut noch einmal auf ihr Schienbein, das eindeutig den Kürzeren gezogen hat beim Duell mit dem Pedal. ‚Vergiss es‘, sagt sie und stapft zum Kühlschrank, den sie dann doch nicht öffnet, sondern sich schmollend an den Küchentisch setzt, und ich bin ein wenig beunruhigt, weil sie nicht auf ihrer Unterlippe kaut.
‚Schau, Leonie‘, sage ich und Leonie schaut, aber ganz anders als ich mir das wünschen würde. Ich setze mich trotzdem neben sie, auch wenn ihre Aura vielleicht gerade ‚lass mich in Ruhe‘ schreit oder ’stürz dich doch aus dem Fenster‘ oder sowas in der Art. Ich habe Auren noch nie gut lesen können, vielleicht liegt das ja an meinem Astigmatismus. ‚Lass das‘, fährt sie mich an und im ersten Moment weiß ich gar nicht, was ich lassen soll, weil mir noch nicht klar war, was ich machen wollte.
Also kratze ich mich am Hinterkopf.
‚Nein‘, sagt Leonie noch einmal, ’so geht das nicht weiter mit uns beiden‘. Sie hat die Hände in den Schoß gelegt und lässt den Kopf so tief hängen, dass ich mir denke: was ist das denn für eine krasse Dehnübung? Sie kaut wieder auf ihrer Unterlippe. Ich werde langsam panisch, weil ich nicht weiß, wohin mit dem Battaglin und gegen Leonie eintauschen möcht‘ ich’s auch nicht, weil im Bett neben einem alten Rennrad aufwachen mag ich dann doch nicht. Ich schaue wieder wie ein Welpe, der ganz dringend aufs Klo muss, nur dieses Mal eine Spur authentischer, weil ich jetzt wirklich ganz dringend aufs Klo muss. Ich bringe kein Wort heraus, starre auf meine Hände und denke mir, dass die Fingernägel auch wieder geschnitten werden müssten.
Wir sitzen eine ganze Weile schweigend nebeneinander, was ziemlich langweilig ist, dagegen ist eine Flachetappe bei der Polen-Radrundfahrt der reinste Adrenalin-Kick. ‚Weißt du‘, sagt sie, als mir meine Blase schon fast beim Bauchnabel rauskommt, ‚dass ich gar nicht mehr weiß, …‘. Aber weiter kommt sie nicht, weil sie dann meine Tränen sieht, die mir aus dem rechten Auge schießen, weil ich vergessen habe, dass ich vorhin diese scharfen Pfefferoni gegessen habe und mir jetzt mit dem Finger übers untere Augenlid gefahren bin.
Und über dem Kuss, den sie mir dann gibt, vergessen wir beide, was sie eigentlich gar nicht mehr weiß.