Café enVie, New Orleans

Gastbeiträge

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Die Abendsonne hing in den langen Straßen des French Quarter und tauchte die Balkone, die Fassaden der schlichten einstöckigen Creole Cottages und die Gartenmauern, hinter denen der intensive Duft blühenden Jasmins hervordrang, in ein selbstzufriedenes Licht.

Baumann, der sich gerade schwer auf einen freien Stuhl hatte fallen lassen, nahm nichts davon wahr. Mit einem Blick, der ihm vom Hunger eng geworden war, schaute er konsterniert auf den durchsichtigen Plastikbecher vor ihm und versuchte zu verstehen, was sich darin befand. Das untere Drittel war mit Eiswürfeln gefüllt. Darüber, noch immer leicht schwappend, war eine milchig-braune Flüssigkeit, die an den Seiten des Bechers breite Schlieren zog.

Wie es oft der Fall war, wenn er den Hunger zu lange mit sich herumgetragen hatte, kam es Baumann so vor, als könnte er sich selbst beim Denken zuschauen und würde trotzdem nicht weiterkommen.
Drinnen im Café, vor dem Tresen aus dunklem Mahagoniholz, hinter dem ein großer Spiegel aufragte, in dem Baumann sich selbst gesehen hatte und über die eigene Erschöpfung im Gesicht erschrocken war, hatte er einen medium Café au lait bestellt. Irgendwas musste aber mit seiner Bestellung durcheinander gekommen sein. Denn das, was er vor sich hatte, war mit Sicherheit kein mittelgroßer Milchkaffee. Der junge Verkäufer mit dem tief von Akne zerfurchten Gesicht hatte ihm den Becher mit einem Lächeln in die Hand gedrückt.
»Enjoy«, hatte er gesagt.

Warum eigentlich nicht, dachte Baumann jetzt, und nahm einen Zug aus dem dicken Strohhalm. Das Getränk schmeckte kalt und süß und scharf nach Hochprozentigem, nicht schlecht. Er spürte dem Brennen an den Rändern seiner Zunge für einen Moment nach. Ein paar Schlucke später war das Hungergefühl verflogen und die Erschöpfung wich mehr und mehr einer wohligen Müdigkeit.

Das Café war voll, er hatte einen der letzten freien Stühle bekommen. Am Tresen warteten zwei Streifenpolizisten hinter einer lauten Gruppe junger Männer, die wie Punker aussahen, nur mit weniger Nieten und ohne politische Aufnäher. Wenn er sich so umsah, schienen vor allem Einheimische im Café zu sein. Er war eben wirklich kein Fremder mehr, dachte er bei sich.
Vorne über der Türe hing ein Schild mit dem Schriftzug enVie. Baumann überlegte, was der Name bedeutete. Hieß es »Neid«, oder »Lust«? Oder einfach »im Leben«? Der Klang des Namens gefiel ihm jedenfalls, und er sagte ihn mehrmals leise vor sich hin.
»EnVie. En Vie.«
Sein Getränk, was immer es auch war, schmeckte mit jedem Zug aus dem Strohhalm besser.

»Wenn jetzt noch das Notizbuch hier liegen würde«, murmelte er und trommelte dabei leise mit den Fingerspitzen auf die Tischkante.
Doch der Tisch vor ihm war leer.

Aus:
Moritz Hildt: Nach der Parade. duotincta: Berlin 2019

Moritz Hildt, geboren 1985 in Süddeutschland, ist freier Autor und promovierter Philosoph. Sein Debütroman Nach der Parade erschien 2019 bei duotincta (Berlin) und stand auf der Short List für den Thaddäus-Troll-Preis. 2020 folgte der Roman Alles, ebenfalls bei duotincta. Weitere Infos unter
Moritz Hildt

Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Moritz Hildt.

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