Die Alchemie des Morgens

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Das Dorf lichtet sich. Es gibt keinen besseren Ort: um zu sehen. Du schiebst den Vorhang beiseite, blickst in die Welt. Noch ist sie erfüllt von der feuchten Milch der Frühe. Es flirrt der Blick, er findet keine Ruhe im trüben Weiß. »Ein Tag ist hier ein Jahr, ein Leben«, sagst du und öffnest die Fensterflügel, damit der Atem der Nacht ausziehe.

Gesättigt von der Kälte streift die Frische eines neuen Morgens an dir vorbei ins Zimmer. Du verharrst am Fenster, um es so bald wie vernünftig erneut zu schließen, die Hand beinahe schon nach dem eisernen Riegel ausgestreckt. Stehst und staunst, da sich über Nacht mit zartem Raureif umflorte, was vom letzten Sommer blieb: In spitzen Zacken stachelt sich jeder Halm, jeder Ast, als glaubten sie an ihre Wehrhaftigkeit. Das sei »irgendwie rührend«, sagst du, wie die Natur ihre Schönheit an uns verschwende, obgleich menschliche Gier nicht einmal dort ende, wo eigener Untergang beginnt.
Die Stille der Welt löscht sich im Klang der Kirchturmglocken. Ein Turm und noch ein Turm blickt in die Landschaft, erzählt von jenen Zeiten, als die Menschen ausschließlich zu Fuß unterwegs waren und Uhren höchstens in der guten Stube standen. Ihre Schläge wiederholen und holen sich ein – jeder Stunde ihr Wieder. Es dauert, bis ihre Stimmen über die Hügel herüberwehen.
Vier, fünf, sechs, und die Zeit kriecht in feuchten Wehen durch die geöffneten Fenster, der Wind mischt sich ein, fächert das aufgeschlagene Buch auf deinem Nachttisch.
Das leise Rascheln des Papiers wendet dich von der Außenwelt ab, entschieden bietet deine Hand dem Verblättern Einhalt. Du schließt das Fenster, schiebst die kleinen Riegel vor die Flügel. Nachtschatten sind auf deine Wangen zurückgekehrt, du wirst sie sogleich mit dem Tau des Himmels tilgen wollen, verschließt die Badezimmertür.

Letzte Nacht erzähltest du, wenige Minuten, ehe du das Licht löschtest, was du gelesen hattest: Erst wenn jeder Körper seine Wahrheit aussprechen könne, ohne Angst, ziehe Wirklichkeit in die Wahrnehmung der Welt ein. Und in die Dunkelheit flüstertest du, dass du dir nicht sicher seist, ob unser Zeitalter neben der Wahrheit der Männer endlich auch diejenige der Frauen oder bereits die Wirklichkeiten aller Reisenden erkenne – ohne ein Gefühl der Bedrohung. Manchmal, wenn du das Dorfleben betrachtest, beschleichen dich leise die Zweifel, ob die Welt soweit genesen sei. Doch vielleicht wäre das eine mitgebrachte Angst aus der Aufgeregtheit der Stadt, wer weiß.
Hier scheint es keinen zu kümmern, weil man schlicht davon ausgeht, dass nicht existiert, was nicht Gewohnheit ist. Es drücke dich, wie sich unser Denken noch immer in Enge ersticke. Schon eine eindeutige Antwort auf die Frage, was und wer Frau sei oder wie, falle schwer. Wir werden es erst wissen, sagtest du, wenn keinem Körper mehr bei der Geburt ein stereotypes Kleid angezogen werde und wir uns leicht genug fühlen, um das alte ›Wehe dir!‹ zu verlachen.

Du kommst zurück, nimmst am Schreibtisch Platz, suchst im Buch jenen Absatz, mit dem du dich beschäftigtest, bevor der Wind mitsprach. »Geduld, Geduld«, sagst du. Alle Entwicklungen bedürften der Geduld. Selbst das Lichten brauche seine Zeit, da die Welt vor Langem schon beschlossen habe, dass Klarheit dem Menschen bloß in portionierter Langsamkeit zu verabreichen sei, Seite um Seite gleichsam, und deine Augen halten Ausschau nach der Wahrheit der Körper.
Fürwahr, auf den deinen ist Verlass, im Gegensatz zu den ewig wechselnden Wahrheiten anderer Körper. Selbst wenn er dir in seinem Wesen lästig ist, weil er nicht zeigt, was du fühlst. Es begegnet dir einzig in alten Alchemien, die von einem königlichen Geschwisterpaar auf seinem Beet der Verwandlung berichten, das der Himmel mit der Essenz des Morgens benetzt, damit ein Leib in Zweigestalt, Rebis genannt, zu neuem Leben erwacht.
Um von der Wahrheit der Körper in der Welt zu erzählen, sagst du, bedürfe es einer Sprachgestalt, in der die Sinneswahrnehmungen Einzug halten. Nur sie würden uns Bilder in die Landschaft malen, die Tiefe und Weite gestatten, und du greifst nach deiner Brille, knipst dir die Schreibtischlampe an. Schon breitet das Licht seinen Kegel aus, beleuchtet die Schrift in Buch und Manuskript: Schwarz auf Weiß. Eine Wirklichkeit. Wer solches Nachsinnen lese, habe ein Puzzle vor sich, halte mit etwas Geduld alle Teile in Händen, könne sie nach und nach zueinander in Bezug setzen – innerhalb dieses Sprachkörpers, ebenso wie zu manch einem Werk, das ihm vorausging.
»Ich weiß, ich weiß«, und begütigend hebst du die Hand, »ich kann sie alle hören, die ›Zu viel!‹ stöhnen, weil sich solch eine Lektüre dem Nebenher entzieht, doch die Wahrheit ist: Wer Nachdenken meiden will, sollte lieber im seichteren Gewässer der Kolumnen planschen. Und den Ozean denjenigen überlassen, die das Entschlüsseln der Anspielungen genießen. »Als wäre auch er ein Gedicht«, sagst du und dass nicht alles für alle und zu jeder ihrer Zeiten verfasst sei.

Du willst deine Schriftzeichen mit zügigem Pinselstrich in den Fluss des Morgens malen, willst dein Gesicht der aufgehenden Sonne zuwenden, die Halswirbel sollen sich zur selbstbewussten Säule aufrichten, der Rücken darf sich deiner Brust gewiss strecken, deine Schultern wünschen, entspannt zu ruhen. Von deinem Scheitel bis zu deinen Sohlen möchtest du diesen Körper in seinen Wahrheiten spüren, denn auch er kennt mehr als eine, und du drängst nach draußen, ins Freie, dem unwirtlich drückenden Weiß dieses Himmels zum Trotz. Gewohnheiten gehen eben ihren Gang: durch das Gartentor und den Hügel hinauf.
Noch schlägt das Herz mürbe in der Kälte, der Atem stolpert im Anstieg, das Gesicht hitzt sich wieder einmal, im Wechsel gefangen, während rund um uns die Welt sich ausatmet. Sie legt ihren Hauch auf Kleinigkeiten, selbst der Augenblick bewimpert sich an der feuchten Milch des Morgens, sodass wir darüber jede Weite aus dem Blick verlieren: hier das Schneckenhaus, dort der Baumstumpf. Einzig Nähe ist, alles andere verwischt sich in Schatten. Du streifst die Hecke auseinander, in ihr schläft der Sommerflieder seinem Namen entgegen. »Wie gerne der doch eine Heckenrose wäre«, sagst du, »wenigstens einmal! Dann könnte er seine Reihe in wirrem Wuchs schließen.« Und wogegen ihm kein Geäst hülfe, sei ihm der Stacheln gefürchtete Unbill sicherlich Rettung.
»Gib auf die Veilchen acht!«, und du zeigst auf scheues Grün am Boden, das sich umgeben von der Abschiedsschwere des Vergangenen zu behaupten beginnt.

Aus:
Webe dem Horizont sein funkelndes Band. In: Wort an Wort: Berührung. Schachinger, Marlen (Hg.in). Kleinbaumgarten: Edition Arthof 2022.

Marlen Schachinger wurde im Dezember 1970 frühzeitig und während eines Schneesturms geboren – wohlgemerkt: der österreichischen Variante desselbigen, und wie alles hierzulande kommt auch so ein Schneesturm ein bisschen verhaltener daher als anderswo, ein bisserl gemütlicher eben. Dennoch genügten die Böen, dass der Rettungswagen am See entlang schlingerte und beinahe in einer Schneewehe zum frühzeitigen Ende seiner Fahrt gekommen wäre. Und der Wind blies dem Kind, das gerade geboren wurde, in jener Nacht seine Lebenskraft und sein Temperament zu, wehte sie zum Trotzdem und nährte den unbändigen Wunsch, dieses Leben kraftvoll zu gestalten.
Nicht nur, dass bereits ihre Geburt mit einer Geschichte begann, wuchsen diese auch mit ihr, nährten sich am Klang der Wörter in Gedichten, verzweigten sich in der Lektüre in alle Himmelsrichtungen, schufen Universen und Bildwelten, wurden Klangraum und Lebensmittel.
Und weil Marlen Schachinger ist, wer sie ist, will sie sehen, was vor sich geht, will Welt in ihrem Sein und ihrem Könnte umfassen, will gestalten. Sei es in ihren Büchern, in ihren Filmen, sei es in fremden Sprachwelten, die sie in ihrer eigenen zum Tönen bringt oder in den Erzählungen anderer, denen sie zur Welt verhilft. Da dies alles auch einen Boden braucht, studierte sie Komparatistik und Sprachen. Wer aber seine Gedanken mit dem Wind ziehen lässt, tut gut daran, nährende Erde unter den Füßen zu haben. Deswegen betreut sie auf ihrem Hof in Kleinbaumgarten Gemüse-, Obst- und Beerengarten, versorgt eine stetig wachsende Tierschar.
So erzählt, liest, liebt, lebt sie auf ihre Art: nachsinnend, wissbegierig, manchmal durchaus auch mit der Leidenschaft des Windes, dem sie von Kindheit an zugetan ist.
Marlen Schachinger
Edition Arthof

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Marlen Schachinger.

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