Die Welt ist eine Laienbühne

Peloponnes

Written by:

Views: 2880

Geduld. Der stille Mann lehrt uns Geduld. Wie ein trunkener Schmetterling wirbelt er in seinem bunten Gewand über die steilen Tribünen, biegt zuweilen links vom Hauptweg ab, der von der Bühne bis ganz nach oben führt, dann wieder rechts. Doch aus dem Bild, das Doris schießen will, da tritt er nicht. Es scheint, als ob er Philosophen aus uns machen wollte. Anhänger des Zenon.
Stoiker.

Epidauros. Mondäner Kurort einst mit Bädern, Tempeln, Sportanlagen. Wo man Hypnose praktizierte, Schlaftherapie verordnet wurde. Ein Ort, an dem die Meinung herrschte: der Schlüssel zur Genesung, er lag tief drin im eigenen Selbst. Man musste ihn nur bergen. Asklepios, der Sohn Apolls, er war das Maß der Dinge hier, doch hatte man das elende Gewürm zu dulden, das allerorts zugegen war, denn Schlangen waren heilig.
Ich hätte nie und nimmer in den Schlaf gefunden.

Epidauros. Ach ja, beinah vergessen: ein Theater, gar nicht klein. Das gab es auch.

Wir nehmen in der letzten Reihe Platz und warten. Geduld, es wird der bunte Mann vorüberziehen und seine grellen Farben andernorts versprühen. Der Wind streicht sanft, beinahe zärtlich über die Bänke, die er mit Ehrfurcht zu behandeln scheint, sie sind zweitausend und dreihundert Jahre alt. Ich streiche mit der Hand über den Stein, der glatt ist und warm von der Sonne. Ein Stück weit rechts von uns ein junges Paar, das friedlich sitzt und Händchen hält, ansonsten sind nicht viele Menschen hier. Nirgends eine Reisegruppe, die sorglos schwatzend lärmt und wild entschlossen die Ränge des Theaters entert. Nur ein stiller Mann in indezenter Kleidung, der freudvoll einen schönen Nachmittag vertrödelt.
Dann geht er ab, verlässt die Szenerie.

In dem Moment, als Doris aufsteht, das Foto endlich machen will, schiebt sich das junge Paar an uns vorbei, bleibt direkt vor uns stehen. Sie knipst ihr schönstes Lächeln an und er schießt Bild um Bild um Bild. Wir nehmen wieder Platz, sie hat viel Schönheit in die virtuelle Welt zu tragen.

Ich beschließe, der Akustik nachzugehen, die wird ja hochgelobt. Steige die fünfundfünfzig Sitzreihen hinab, trete an den Rand der Bühne. Breite theatralisch meine Arme aus und deklamiere Zeilen, die keineswegs unsterblich sind. ‚Oh Doris, sprich. Was wird dein trauter Mann, der Hunger leidet bald, wohl heute Abend speisen? Wird’s ein gebrat’ner Oktopode sein oder doch gefüllte Paprika?‘ Ich spreche leidlich verhalten und gewiss nicht in Hexametern, die Grobheit meiner Kunst ist mir bewusst. Ein Mann in jadegrünen Shorts blickt mich verstohlen an. Am Himmel kreischt ein zorniger Vogel. Ich stapfe flott bergan, fünfundfünfzig Reihen weit. ‚Und?‘, frag‘ ich die Doris. ‚Irgendwas mit Essen hab‘ ich verstanden. Aber du hättest dich weiter in die Mitte stellen müssen.‘ Keuchend drehe ich mich um und blicke hinunter, sehe die Stelle, die von einem flachen Stein markiert wird. Der optimale Punkt für Reden an das Publikum. Der Mann mit den jadegrünen Shorts schaut noch immer in meine Richtung. Der Vogel schreit erneut.
Ich nehme wieder Platz.

Das junge Paar sitzt nun am Rand der Szenerie, die Köpfe tief gesenkt, man scheint getrennt vereint im weiten digitalen Raum. Eine Frau in Gelb betritt von links die Bühne, geht forsch zu deren Mittelpunkt. Hebt dann die Arme, selbstbewusst, verwegen, triumphal. Und spricht kein Wort.
Ich drehe meinen Kopf zur Seite, schaue Doris fragend an. ‚Perfekt‘, sagt sie und steckt die Kamera ins Etui. Ich nicke. Ein Windstoß fährt durch die Bäume, die das Theater am Hang begrenzen, dort, wo Reihe sechsundfünfzig ihren Platz nie fand. Der Vogel verschwindet mit einem letzten verdrossenen Schrei hinter den Tribünen. Geduld.
Zenon von Kition wäre stolz auf uns gewesen.

Comments are closed.