Ein Leben

Aus dem Alltag

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Johann Bretschneider war achtzehn, als er sein Bajonett in den Rumpf eines russischen Soldaten stieß. Er wusste, dass er keine Wahl hatte, wollte er überleben, diesen Tag, diese Stunde; diesen verdammten Krieg, den er nicht als den seinen begreifen konnte. Er schloss die Augen, als er das Gewehr mit einer raschen Bewegung nach links riss, doch die Schreie des andern, der in seinem Alter sein mochte, konnte er nicht ausblenden, musste sie dulden. Er wusste sofort, dass er diese Schreie nie vergessen würde. Abends, als ihm die Dunkelheit und der Schnaps ein wenig Frieden geschenkt hatten, begriff er: hier, in Galizien, war er zum Mörder geworden. Er soff diese Erkenntnis aus seinem Schädel, aus seiner Seele. Es funktionierte.

Es dauerte einige Zeit, bis er sich mit den Grausamkeiten abfinden konnte, die dem Krieg eigen waren. Einmal, fünf Wochen nach Kriegsbeginn, sah er, wie einer seiner Kameraden, ein schmächtiger, unscheinbarer Kerl, ein Baby aus seiner Wiege riss und gegen die Wand schleuderte. Rasch hatte er weggesehen, war aus dem Haus gegangen, hatte sich eine Zigarette angezündet. Als er den Kopf hob, sah er eine Glückskatze, die ihn anstarrte, ehe sie weglief, um eine Hausecke verschwand.

Im zweiten Kriegsjahr, an einem todesschwangeren Tag Anfang Mai, im Verlauf einer Schlacht, die sich als zäh erweisen sollte aber erfolgreich, traf ihn im Nahkampf ein Feldspaten am rechten Ohr. Wie sich später herausstellte, war das Trommelfell gerissen, der Hörverlust komplett. Sein rechtes Ohr blieb taub.

Bretschneider war auf Fronturlaub, als der Krieg zu Ende ging. Als er von der Kapitulation erfuhr, trat er ins Zimmer, in dem seine Uniform hing, nahm sie aus dem Schrank und verbrannte sie. Er dachte an vier verlorene Jahre und dass er kein Soldat mehr war, sondern Maurer. Im folgenden Jahr heiratete er eine Frau, die er seit Kindheitstagen kannte. Sie war so alt wie das junge, unglückselige Jahrhundert selbst. Die Schreie des Russen hörte er immer noch. Er soff sie weg.

Wilma, seine Frau, gebar ihm neun Kinder. Fünf erlebten ihren ersten Geburtstag.

Johann war ein Mann wie viele andere auch; er arbeitete und trank. Im Suff prügelte er die Frau, schlug auch die Kinder. Mit Geld ging er sorgsam um, machte nie Schulden. Er wusste, dass einem wie ihm nichts geschenkt wurde im Leben. Im Hof hielt er Hühner und Tauben.

Paul, der Erstgeborene, war ein eigenwilliges Kind, hitzköpfig und robust. Er mochte sich keiner Autorität beugen, nicht der des Vaters, nicht der des Lehrers. Jener der Nazis erst recht nicht. Es nützte ihm nichts. Der Vater schlug ihn, der Lehrer schlug ihn. Die Nazis schickten ihn in den Krieg. Er nahm an drei Feldzügen teil, wurde zweimal schwer verwundet. In Italien geriet er in Gefangenschaft. Die Amerikaner nutzten seinen Trotz, seinen Hass auf die Nazis, gewannen ihn für eine Sabotageeinheit, die unter der Leitung eines Offiziers stand, der einen Friseursalon in Michigan besaß. Die Mission scheiterte. Paul, der nicht wusste, wohin er sich sonst hätte wenden sollen, schlug sich zu seinem Elternhaus durch. Es war Anfang März, er fror elend. Als ihm der Vater die Tür öffnete, wollte er eintreten, doch Johann Bretschneider ließ es nicht zu. Er wusste, in welche Gefahr er die Familie bringen würde. Paul senkte den Kopf, wollte gehen, da winkte ihn der Vater hinein.

Vier Tage später verriet sie ein Nachbar.

Es war Ende April als die ganze Familie, bis auf die beiden Kleinsten, in jenem Lager saß, das, weithin sichtbar, auf dem Hügel lag. Im Lager wütete der Typhus. Das Kriegsende war nah. Die Wachen betraten die Zellen nicht mehr.

Alle fünf überwanden die Krankheit, überlebten den Krieg. Die beiden Jüngsten, vier die Tochter, zehn der Sohn, kehrten nach Hause zurück. Wilma, fünfundvierzig nun, stand im Hof, blickte in den Himmel und fragte sich, welche Grausamkeiten dieses Jahrhundert, das doch ihr Zwillingsbruder war, ihr noch zumuten würde. Ursula, die Kleinste, freute sich über eine Holzpuppe, die ihr ein russischer Soldat gab. Johann und Paul gingen zum Nachbarn, der sie verraten und ihr Haus in Besitz genommen hatte. Sie verprügelten ihn.

Wilma lebte ein Leben voll Fleiß und Bescheidenheit. Im Herbst des Jahres 1962 erkrankte sie an Leukämie. Sie starb an einem Tag Anfang Mai.

Johann Bretschneiders Gedächtnis wurde löchrig wie jenes der Welt, in der er lebte. Seine jüngste Tochter nahm ihn zu sich. Als er eines Nachts aufstand und in den Wandschrank urinierte, musste er in ein Pflegeheim, in dem er drei Monate später starb. Den jungen Soldaten, dem er mehr als fünf Jahrzehnte zuvor sein Bajonett in den Rumpf gestoßen hatte, vergaß er bis zu seinen letzten, trüben Tagen nicht. Seiner Tochter hatte er nur einmal von den Schreien des Russen erzählt. Sie hatte schweigend zugehört und nicht weiter danach gefragt.

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