Ein Wintermorgen ohne Titel

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Der Himmel ist blau
wie Rabenflügel.
Sie sind blau.

Wie das blaue Gewand,
das Hrafnkell trug,
als er hinausritt, Einar zu suchen,
mit einer gut geschärften Axt
unter dem Hemd.

Amseln zwitschern
Stecknadelstiche in die Stille,
die hochweht
vom gleichmäßig gefallenen Schnee.

Auf der Stadt liegen
sechzehntausend Lichtjahre Schnee.

Die Amseln sitzen
in den Hufeisenspuren der Hengste.
Haben wieder einmal vergessen,
dass es Raben gibt.

Vielleicht liegt es an der Schlaflosigkeit.
Ich habe die ganze Nacht wach gelegen.
Und habe keine Ahnung,
warum.

Der Austragungsort der Ängste
liegt in der Nacht, nicht weit entfernt
vom Körper dessen, der schläft.
Falls er schläft.

Blattlose Bäume klingen
wie Hufschlag.

Ich gehe in Hausschuhen hinaus,
hisse eine verschlissene Plastiktüte
in den Ästen des Vogelbeerbaums.
Sie symbolisiert den aufrichtigen Wunsch
eines Verängstigten.

Die Raben lachen ihn aus.
Die Amseln wissen nicht, wie sie heißen
noch wie gut sie vor einem weißen Hintergrund zu sehen sind.

Der Himmel ist blau wie der Flügel eines Raben.
Die Erde ist weiß wie das Gedächtnis der Amsel.
Ohne Vorankündigung droht Grausamkeit.
Das Gedicht ist ein Wecker, der zu früh klingelt.

Die Plastiktüte flattert im Geäst.
Sie hat dieselbe Farbe wie der Schnee.

Aus:
Ragnar Helgi Ólafsson: „Laus blöð / Lose Blätter“. Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
Der zweisprachig edierte Band erschien im September 2023 als Hardcover mit 304 Seiten im ELIF Verlag.

Ragnar Helgi Ólafsson, geb. 1971 in Reykjavík / Island, studierte an der Universität von Island Philosophie, Filmregie an der New York Film Academy und im Anschluss in Frankreich zunächst Französisch in Marseille und danach Kunst in Aix-en-Provence. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller ist er in den letzten Jahren vornehmlich als Grafikdesigner, bildender Künstler und Verleger tätig.
Für seinen ersten Gedichtband Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können (2015 / ELIF Verlag 2017) wurde er mit dem Tómas Guðmundsson-Poesie-Preis ausgezeichnet, für seine Story-Sammlung Handbuch des Erinnerns und Vergessens (2017 / ELIF Verlag 2020) war er für den Isländischen Literaturpreis in der Kategorie Belletristik nominiert, für das Ein Requiem genannte Buch Die Bibliothek meines Vaters (2018) in der Kategorie Sachbuch. Sein Gedichtband Lose Blätter (2021 / ELIF Verlag 2023) war für den Literaturpreis des Nordischen Rats 2023 nominiert.
Ragnar Helgi Ólafsson lebt und arbeitet in Reykjavík.

Jón Thor Gíslason, geb. 1957 in Hafnarfjörður, lebt seit Anfang der 1990er Jahre als bildender Künstler in Deutschland, derzeit in Düsseldorf. Bis 1988 war er professioneller Popmusiker in Island, danach absolvierte er ein Aufbaustudium (Meisterklasse) an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart. Er arbeitete zeitweise als Korrespondent in Deutschland (Kunst und Kultur) für die isländische Tageszeitung Morgunblaðið. In Zusammenarbeit mit Wolfgang Schiffer veröffentlichte er diverse Übersetzungen isländischer Lyrik, vor allem für den ELIF Verlag.
Jón Thor Gíslason

Wolfgang Schiffer, geb. 1946 in Nettetal/Lobberich, studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften; er arbeitete beim Rundfunk und veröffentlichte Hörspiele, Bühnenstücke, Romane und Lyrik, hier u.a. die Gedichtbände „Kalt steht die Sonne“ (Claassen Verlag 1983) sowie „Die Saison geht zu Ende – Ausgewählte Gedichte“ (Aphaia Verlag 2014), „Dass die Erde einen Buckel werfe“ (ELIF Verlag 2022), „Gespräche mit dem Enkel“ (Corvinus Presse 2024) und aktuell „Ich höre dem Regen zu“ (ELIF Verlag 2024). Er ist außerdem als Herausgeber und Übersetzer tätig, insbesondere isländischer Literatur, in den letzten Jahren verstärkt in Zusammenarbeit mit dem isländischen Künstler Jón Thor Gíslason und überwiegend für den ELIF Verlag, der bislang neun in gemeinsamer Übersetzung entstandene Bände zeitgenössischer isländischer Lyrik sowie einen Erzählungsband veröffentlicht hat.
Wolfgang Schiffer erhielt für seine Arbeiten mehrere literarische und kulturelle Auszeichnungen, u. a. das Ritterkreuz des Isländischen Falkenordens und den Isländischen Kulturpreis des Fonds Islands Banki; er lebt in Köln und in Prag.
Wolfgang Schiffer

Gemeinsam gestalten Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer außerdem die Reihe Wortlaut Island in der Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin, die zweimal im Monat Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik aus Island vorstellt.

Die Rechte am Originaltext liegen beim Autor, die der deutschen Übersetzung beim Verlag. Die Bildrechte am Foto liegen bei Wolfgang Schiffer, am Layout bei Arnd Schäfer.


VETRARMORGUNN ÁN TITILS

Himinninn er blár
eins og hrafnsvængir.
Þeir eru bláir.

Eins og bláu sparifötin
sem Hrafnkell klæddist
þegar hann reið út að leita Einars
með vel brýnda öxina
undir skyrtunni.

Svartþrestir tísta
títuprjónsgöt á þögnina
sem seytlar upp af
jafnföllnum snjónum.

Ofan á borginni liggja
sextán þúsund ljósár af snjó.

Þrestirnir sitja
í skeifuförum stóðhesta.
Enn einu sinni búnir að gleyma
því að til séu hrafnar.
Kannski er það svefnleysið.
Ég er búinn að vaka í alla nótt.

Og hef ekki hugmynd um
hvers vegna.

Varnarþing beygsins
er í nóttinni, rétt utan
líkama þess sem sefur.
Ef hann sefur.

Lauflaus tré hljóma
eins og hófaþytur.

Ég fer út á inniskónum
dreg tætingslegan plastpoka
að húni í greinum reynitrésins.
Hann táknar einlæga ósk
hins óttaslegna.

Hrafnarnir hlæja að honum.
Svartþrestir vita ekki hvað þeir heita
né hversu vel þeir sjást á hvítum grunni.

Himinninn er blár eins og hrafnsvængur
Jörðin er hvít eins og minni svartþrastarins.
Yfirvofandi formálalaus grimmd.
Ljóðið er vekjaraklukka sem hringir of snemma.

Plastpokinn blaktir í greinunum.
Hann er samlitur snjónum.

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