Falsch gestellte Weichen

Aus dem Alltag

Written by:

Views: 351

Als ich ihn zum letzten Mal sah, trug er seinen Parka und die dunkelgrauen Jeans. Wir trafen uns im Stiegenhaus; der Altbau, in dem wir lebten, hatte damals noch keinen Lift. Ich kam gerade nach Hause, hatte die Schlüssel aus meiner Handtasche genommen, hob den Kopf, da stand er vor mir. ‚Hallo‘, sagte er, lächelte mich an, strich sich durchs Haar. Wir hatten einander eine Weile nicht gesehen, drei Wochen vielleicht, und ich hatte nicht damit gerechnet, ihn vor den Feiertagen noch einmal zu treffen. ‚Hallo‘, antwortete ich, wollte noch etwas sagen, etwas Belangloses, Banales, aber es fiel mir nichts ein, also ließ ich es. ‚Na dann, wir sehen uns‘, sagte er, nickte mir zu, ging die Treppe hinunter. Ein paar Augenblicke stand ich noch im Stiegenhaus, den Wohnungsschlüssel in der Hand, hörte, wie die Haustür geöffnet wurde, wieder ins Schloss fiel.

Es war, fast auf den Tag genau, ein Jahr her, dass wir uns getrennt hatten. Ich will nicht behaupten, dass er mir nicht fehlte, manchmal. Dass ich nicht öfter an ihn dachte, als mir wahrscheinlich guttat. Aber ich kam zurecht, alles in allem. Die Dinge verändern sich, dachte ich. Man musste die Konsequenzen der Entscheidungen, die man getroffen hatte, schultern können, tragen. Umso mehr, als ich es war, die unseren Bruch heraufbeschworen hatte.
Er wolle keine Kinder, hatte er gesagt und beide Hände gehoben als gälte es, Unheil abzuwehren oder einen Fluch. Es läge nicht an mir, das müsse ich ihm glauben. Er liebe mich, hatte er gesagt. Und dass ich es wüsste. Wir wären doch glücklich miteinander, hatte er gemeint und mich in die Arme genommen. Ich weiß noch, dass ich es geschehen ließ und nichts sagte, nicht nickte, nicht weinte. Ich schloss einfach die Augen, schwieg, legte mein Gesicht an seinen Hals, roch seinen Duft.
Der Zufall wollte es, dass eine Wohnung im Haus frei wurde, zwei Etagen unter seiner. Die Gegend gefiel mir, die Miete war leistbar und der Gedanke, in seiner Nähe zu bleiben, störte mich nicht. Menschen, fand ich, machten merkwürdigere Dinge. Das Leben musste weitergehen. Und das tat es.

Es war ein Dienstag, als zwei Polizisten an meine Tür klopften. Ob sie eintreten, mir ein paar Fragen stellen dürften? Ich nickte, bat sie herein. Sie setzten sich, sahen sich um. Sie waren sehr höflich. Wann ich ihn zuletzt gesehen hatte, fragten sie. Und ob ich wüsste, wo er wäre. Oder sein könnte. Ich sah sie aus großen Augen an. Sah auf meine Hände. Sie zitterten.

Menschen verschwinden. Zu allen Zeiten, überall. Es scheint, als würden sie auf die Straße treten, oder in ein Zimmer, und durch die Gitterstäbe der Zeit fallen. Keine Spur, die sich mehr von ihnen findet, von einem Moment auf den nächsten. Markus ist einer von ihnen. Er trat aus dem Haus und verlor sich im Dunkel einer nasskalten Dezembernacht. Bald ist es einundzwanzig Jahre her.
Ich lebe noch immer in diesem Haus, dieser Wohnung. Manchmal, dass ich sie mit jemandem teilte, der mir nahe war, für eine Weile.
Markus habe ich immer vermisst.
Mutter wurde ich nie.

Comments are closed.