Gewicht und Gnade der Schwerkraft

Gastbeiträge

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Nicht vorstellbar ist mir die Nachtruh im All, kann ich oft
doch nicht mal auf festverschraubten Betten schlafen:
Willigen die Körper der Astronauten überhaupt ein in
den Schlaf – ohne Kraft, die sie am Boden hält, dort oben,
wo es kein Unten gibt? Wo nichts an einem zieht, nichts
einen fasst, umarmt, wiegt und für schwerwiegend befindet.

Man sagt: Nach dem Sterben und vor der Wiedergeburt
werden wir uns in einem Zustand der Körperlosigkeit finden,
und wenn uns unser schwerer Anker fehlt, wird umso größer die
Macht des Geistes und der Geister sein. Ich vermute, ich brauche
dann jemanden, der mir von meinem Totenbett aus gut zuredet, oder
reichlich Übung darin, meine Gedanken nicht allzu ernst zu nehmen.

Und wenn ich einmal nicht mehr kann, lege ich mich in der winzigen
Damentoilette unters Waschbecken: Wo gibt es sonst noch Versuche
ernstgemeinten, öffentlichen Ausruhens für Menschen, die sich neu
zu positionieren wünschen. Den schweigenden Widerstand gegen alles,
was mich treibt, kann ich mir nur selbst erfüllen. So schmiege ich mich
in die Kacheln und liege dort, liege dort einfach für den Rest des Tages.

Aus:
Annette Hagemann: Katalog der Kiefermäuler, edition offenes feld, Dortmund 2024

Annette Hagemann, geb. 1967 in Münster, studierte Germanistik und Ethnologie in Göttingen und arbeitete von 2001 bis 2018 im Literaturhaus Hannover, seit 2018 im Kulturbüro Hannover. Sie veröffentlichte die Gedichtbände „streit mit dem sonnengott“ (Wehrhahn Verlag 2009), „sirene des duschraums“ (Horlemann Verlag 2014) sowie das gemeinsam mit Nora Gomringer, Marco Grosse, Ulrich Koch und Klaus Merz verfasste Kettengedicht „Flüsterndes Licht“ (Haymon Verlag 2017) und jüngst den Band „Katalog der Kiefermäuler“ (edition offenes feld 2024).
Im Herbst 2024 ist „Die Fünfte Jahreszeit“ erschienen (Lyrikedition Hannover, Wehrhahn Verlag).
Ihre Gedichte wurden ins Englische, Spanische und Chinesische übersetzt, und sie erhielt für ihre Lyrik das Literatur-Arbeitsstipendium des Landes Niedersachsen 2009, den postpoetry.NRW-Preis 2017 und das Spreewald-Literaturstipendium 2018.
Annette Hagemann

Johanna Hansen aus Düsseldorf, Autorin, Malerin, Buchillustratorin. Herausgeberin der Literaturzeitschrift WORTSCHAU. Zunächst Lehrerin und Journalistin. Drei Jahre Aufenthalt in Davos/Schweiz. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen. Seit 2008 Publikationen vor allem von Lyrik in Kombination mit eigenen Bildern. In Zusammenarbeit mit Musiker*innen und Komponist*innen entstanden Performances, Buch/CD Projekte und Poesie-Filme. Gedichte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Ihre literarische Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Feldkircher Lyrikpreis 2024.
Johanna Hansen

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Annette Hagemann, die Bildrechte bei Johanna Hansen.

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