Es führt kein Weg zurück. Drehe ich mich um, blicke ich in die Gesichter zweier freundlich lächelnder Damen, die eine ganze Legion chinesischer Touristen anzuführen scheinen. Vor uns sieht’s nicht viel anders aus, bloß dass ich dort in keine Gesichter sehe. Über die Gatter zu klettern, die uns in Richtung Aufzug leiten, ist auch keine Option. Nur Lebensmüde steigen in China über Barrikaden.
Der ersten Ordnungskraft seit einer Stunde angesichtig, treten wir den Rückzug an. Es hätte das Gipfelerlebnis wohl krass der Einsamkeit entbehrt, das geht ja hier zu wie auf dem Mount Everest. Doch was weit schwerer wiegt: der reservierte Tisch, wir hätten ihn verloren.
Geht echt nicht.
Und spätestens, als wir ganz hingerissen unsere Zähne in die Xiaolongbaos schlagen und sich direkt vor uns die grandiose Skyline von Pudong in ihr farbenprächtiges nächtliches Gewand hüllt, wissen wir, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben.
Essen hat in China immer Vorrang.
Niemand soll glauben, wir geben uns so leicht geschlagen. Am nächsten Morgen stehen wir an derselben Kassa wie tags zuvor und kaufen zwei sündhaft teure Eintrittskarten. Nur Augenblicke später eilen uns sechs Feuerwehrmänner entgegen und steuern auf den Pearl Tower zu. Keine zwei Meter vor mir entgleitet einem jungen Mann, er wirkt ganz aufgeregt, sein Feuerwehrschlauch.
‚Wie nachtragend können Götter sein?‘, frage ich mich fassungslos, als ich da stehe, die beiden Tickets kraftlos in der rechten Hand. Und sehe dem Schlauch zu, wie er sich mit majestätischer Gelassenheit entrollt und elegant über meine Schuhe gleitet.
Es ist nur ein kleiner Schritt für mich und mit Sicherheit gar keiner für die Menschheit. Doch ich zögere. Vor mir weitet sich die Aussicht ganz dramatisch, man blickt nun auch nach unten. 259 Meter tief. Doris klebt schon an der Fensterfront, der Wind fegt durch die schmalen Schlitze unterhalb der Decke. Ich stehe starr und reichlich ungeschmeidig und ringe unentspannt mit meiner Höhenangst. Wir sind tatsächlich hier, wo momentan nur wenig Volk zugegen und keine Feuerwehr im Einsatz ist. Ich blicke links und rechts, sehe Euphorie in den Gesichtern und zuweilen eine Prise Angst.
Dann mache ich den Schritt nach vor.
‚Soll ich ein Foto von Ihnen beiden machen?‘, fragt mich der Mann in tadellosem Englisch. ‚Das wär‘ sehr nett‘, sag ich und komm mit ihm ins Plaudern, so wahnsinnig oft kommen wir ja auch nicht mit Chinesen ins Gespräch. Sein Englisch ist perfekt, ich schaffe es, die Anzahl der Grammatikfehler im niedrigen einstelligen Bereich zu halten. Woher sein tolles Englisch stamme, mag ich schließlich wissen. ‚Well, I’m from New York‘, meint er, ein wenig amüsiert vielleicht.
‚Na ja‘, sag ich, auf Englisch halt. ‚Es sind ja die Amerikaner wahrscheinlich gar nicht gewohnt, für ihr Englisch Lob zu kriegen.‘
Müssten wir nicht alle paar Sekunden schlucken, nichts ließe darauf schließen, dass wir gerade das dritthöchste Gebäude der Welt hochfahren. Die Lifttür geht auf, entlässt uns in Etage 118, Shanghai liegt uns zu Füßen. Winzige Lastkähne und Fährboote schieben sich – gemach, gemach – den erdbraunen Fluss entlang. Tief unten spiegelt sich die Sonne in den Jugendstilfassaden der Uferpromenade. Ein Wald aus Wolkenkratzern wächst allerorts empor. Und staunend sehen wir aus 561 Metern auf drei der höchsten Gebäude der Welt hinab.
Sie liegen gute hundert Meter unter uns.
Es ist Abend geworden, wir sitzen um den Esstisch. Phil ist gerade aufgestanden, er kommt mit vier Tsingtao-Bieren wieder. Dann greift er nach den Karten und ich verliere wie gewöhnlich Spiel um Spiel. Die Götter werden wohl noch immer grantig sein.
Irgendetwas hat mich aus dem Schlaf gerissen. Völlig still beginnt der Tag, noch nicht einmal ein Vogel singt sein Lied. Ich blicke zu Doris, die tief in ihren Träumen liegt. Dann schiebe ich den Vorhang beiseite und trete auf den Balkon. Draußen flutet Dämmerlicht die Welt, lässt sie so friedlich wirken. Ich schaue nach links und sehe im ersten Stock des Nebenhauses eine Frau, die reglos steht und ganz in Rot gekleidet ist. Doch das Nebenhaus ist unbewohnt.
Das wird vielleicht die Brigitte sein, denk ich mir dann, die sich spiegelt in der breiten Fensterfront. Und schau noch einmal hin, doch die Frau, sie regt sich nicht. Dann gehe ich wieder ins Bett. ‚Sag, hast Du eigentlich einen roten Pyjama?‘, frag ich die Brigitte zwei Tage später, ich hab’s schon fast vergessen.
‚Nein‘, sagt sie bestimmt. ‚Wieso?‘