Kuss

Gastbeiträge

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Unter sämtlichen Hausarbeiten bereitet mir Fensterputzen am meisten Unbehagen. Das liegt daran, dass Fenster aus einer Innen- und einer Außenseite bestehen. Verglichen mit den verhältnismäßig geringfügigen, wenn auch gesprächigeren Verschmutzungen an der Innenseite erweisen sich die außen meist als ziemlich intensiv. Beim Anblick meines Wischtuchs stellt sich mir dann die Frage, ob ich gerade die Spuren sämtlicher Nächte abgewaschen habe, aus denen seit dem letzten Mal Putzen vor meinen Fenstern Tage geworden sind. Eigenartig ist, dass ich mir dieses Schmutzes erst bewusstwerde, sobald er sich in meinem Tuch befindet. Als ob ich es schwarz auf weiß bestätigt bräuchte.

Innen gibt es für gewöhnlich nicht viel wegzuputzen, andererseits ruft mir das Wenige die unmittelbare Vergangenheit in Erinnerung. Fettflecken in Stirnhöhe etwa bedeuten, dass ich am Fenster gestanden und auf die Straße hinuntergeschaut habe. Handabdrücke erwecken den Anschein, jemand habe versucht durch eine unsichtbare Barriere zu greifen. Einmal habe ich den Abdruck zweier Lippen, zu einem Kussmund geschürzt, an meiner Fensterscheibe entdeckt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, wie der dorthin gekommen sein sollte. Noch merkwürdiger war, dass er nicht verschwinden wollte. Mit Wischtuch und Putzmittel schien ihm nicht beizukommen. Als bestünde seine Absicht darin zu bleiben, bis ich herausgefunden hätte, wie er hierhergekommen sei.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriffen hatte, dass sich der Abdruck der zwei Lippen an der Außenseite meines Fensters befand. Zunächst hatte ich das gar nicht in Betracht gezogen, befindet sich meine Wohnung doch im dritten Stock. Dass es genügt, ein Fenster zu öffnen – die Fensterläden gehen nach innen auf – um, in etwa dort stehend, wo ich mich gerade befand, einen Kussmund außen an der Scheibe anzubringen, wurde mir erst allmählich klar. Die Logik, auf der diese Erkenntnis basierte, verstand es wiederum mich in die Realität zurückzuholen. Ich hielt es in der Folge sogar für überflüssig mich zu fragen, wer diesen Abdruck hinterlassen haben könnte. Allzu viele kamen dafür ohnehin nicht infrage.
Das Wegwischen war dann reine Formsache – wie das Einlochen eines Golfballs aus wenigen Zentimetern Entfernung.

Hanno Millesi, Studium der Kunstgeschichte und Philosophie an den Universitäten Wien und Graz sowie an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien; während des Studiums zunächst in der Galerie Krinzinger tätig, dann Assistent von Hermann Nitsch, später wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum moderner Kunst in Wien; in der Folge als freischaffender Autor tätig.
Romane und Kurzgeschichten (Hörspiele, Essays, Gemeinschaftsprojekte); als Herausgeber: Austropilot (gem. m. Xaver Bayer), als Unterrichtender: Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien sowie Schule für Dichtung in Wien; Preise und Stipendien: u. a. Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien, Reinhard-Priessnitz-Preis
Zuletzt veröffentlicht: Der junge Mann und das Meer (Erzählungen, 2023), Der Charme der langen Wege (Roman, 2021), Die vier Weltteile (Roman, 2018)
Hanno Millesi
Weitere Collagearbeiten

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Hanno Millesi.

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