Fitzek erschrak, als er die Tür schlagen hörte. Er hob den Kopf, sah vom Buch auf, das er gerade las, und horchte in die Stille hinein, die nun wieder dunkel im Raum hing. Er kniff die Augen zusammen. ‚Merkwürdig‘, dachte er und sagte es beinahe laut. Er war sich sicher gewesen, die Schlafzimmertür geschlossen zu haben.
Er sah auf die Uhr, hatte die Zeit ganz vergessen über diesem Buch, das ihn völlig in seinen Bann gezogen hatte. Werfels Erzählkunst war einzigartig, ‚Die vierzig Tage des Musa Dagh‘ nichts anderes als ein Meisterwerk. Es war schwer, sich seinem Sog zu entziehen, zu Bett zu gehen und anderntags zur Arbeit und doch war es unumgänglich. Als Fitzek bemerkte, dass es null Uhr zweiundvierzig war, seufzte er. Es war später, als er gedacht hatte. Er gähnte.
Dann hörte er Schritte.
Fitzek fuhr zusammen, war plötzlich hellwach. Die Augen weit aufgerissen und den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet, horchte er, wie ein Mensch nur horchen konnte. Kein Zweifel, die Schritte kamen aus dem Schlafzimmer, das direkt über ihm lag. Der Bretterboden war verräterisch und duldete keinen ungehörten Schritt, mochte er auch noch so leise gesetzt sein. Fitzek spürte, wie sich die feinen Haare auf seinen Unterarmen aufrichteten. Fühlte, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief und sein Magen zu krampfen begann. Seine Handflächen waren plötzlich nass. ‚Das kann nicht sein‘, dachte er und sagte es diesmal auch. Leise. Er lebte allein in diesem Haus, niemand sonst war hier. Schritte im Schlafzimmer? Es war nicht möglich.
Wie versteinert saß Fitzek auf der Couch, den kleinen Lichtkegel der Leselampe auf seinem Schoß, und starrte auf die Treppe, die ins Obergeschoß führte. Ihr oberer Teil verlor sich im Dunkeln.
Fitzek zwang sich zur Geduld. Atmete tief. Ließ die Panik abebben, hinter der sich sein Verstand verkrochen hatte. Er überlegte. Sollte er die Polizei rufen? Was, wenn er sich doch geirrt hatte? Es war jetzt wieder still im Haus, nur der Kühlschrank brummte sein monotones Lied. Seine Sinne mochten ihm einen Streich gespielt haben, das kam vor. Fitzek nahm all seinen Mut zusammen, stand auf und ging die Treppe hinauf.
Auch im Flur war es still. Ein Windstoß rüttelte kurz am Haus, in der Ferne war das wütende Bellen eines Hundes zu hören. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Fitzek fasste nach dem Türgriff.
Noch ehe er die Schnalle ganz nach unten gedrückt hatte, begriff er. Ließ die Tür ungeöffnet, machte kehrt und stieg die Treppe hinunter.
Er ging ohne Hast.
Fitzek hatte eine Begabung, über die er mit niemandem sprach. Der er nicht auf den Grund gehen wollte und die er wohl auch deshalb nicht zu steuern vermochte. Eine Begabung, die ihm zuweilen Angst machte.
Manchmal wusste er Dinge, die zu wissen sich eigentlich verbot.
Er war acht, als er wusste, dass Herwig Jagoda, der Briefträger, bald sterben würde, obwohl er doch mitten im Leben zu stehen schien. Fitzek hatte es nie jemandem erzählt, zu groß war der Schreck gewesen. Und doch hatte er nie vergessen, wie sie sich anfühlte: die Erkenntnis. Das unumstößliche Wissen um das Schicksal eines Menschen. Er war siebzehn, als er wusste, dass ein Wintersturm das Dach des Elternhauses zerstören würde und einunddreißig, als er Kerstin letztlich doch keinen Antrag machte. Eines Morgens war er neben ihr aufgewacht, hatte sich zur Seite gedreht, ihr Gesicht betrachtet, während sie noch schlief. War mit dem Zeigefinger über ihre Stirn gestrichen, knapp unter dem Haaransatz. Hatte plötzlich gewusst, dass ihre Zeit bald vorüber sein würde.
Hatte den Gedanken nicht ertragen können, ihr zu sehr verbunden zu sein und sie doch zu verlieren.
Er war dreiundvierzig, als er das Haus kaufte, in das er sich augenblicklich verliebt hatte. Es lag am Ende der Straße, war hell und geräumig genug für jemanden, der mit seiner eigenen Gesellschaft das Auslangen fand. Der nächste Nachbar war etwa hundert Meter entfernt und der kleine Garten ging beinahe ansatzlos in den Wald über. In manchen Nächten schien die Dunkelheit allgegenwärtig. Fitzek hatte sofort gewusst, dass er hier leben wollte und dieses Wissen bedurfte keines hellsichtigen Moments.
Es war ein Glücksfall gewesen. Sie liebe dieses Haus, sagte die Vorbesitzerin. Aber das Alter. Es würde langsam beschwerlich hier draußen. Fitzek war es nur recht.
Er sah die Szene noch vor sich, kein Detail war verblasst. Wie sie mit einem Glas Rotwein anstießen, als sie sich über den Kaufpreis einig geworden waren. Es war ein leichter Sizilianer, wenn er sich richtig erinnerte. Er hatte gerade sein Glas erhoben, ihr zugeprostet, als er plötzlich in zwei Gesichter sah. Zwei Gesichter, die einander, wie sollte er es ausdrücken: überlagerten. Das eine lächelte ihn freundlich an, aus dem anderen blickte ihm eine Todkranke entgegen.
Fitzek ließ sich nichts anmerken. Er trank hastig.
Fitzek hatte begriffen und instinktiv wusste er, was zu tun war. Oder hoffte es zumindest. Er stieg die Treppe hinunter und nahm die Kerze aus dem Regal, die ihm eine Freundin vor zwei Jahren geschenkt hatte. Sein Heim könne ein wenig mehr Dekor vertragen, hatte sie gesagt und ihm einen freundlichen Klaps auf die Schulter gegeben. Er holte die Packung mit den Streichhölzern aus der Lade und wollte die Kerze anzünden. Das erste Streichholz brach, beim zweiten Versuch war seine Hand ruhiger. Dann ging er wieder die Treppe hinauf.
Als er die Schlafzimmertür öffnete, konnte er augenblicklich ihre Präsenz spüren. Fitzek atmete tief, zwang die aufkeimende Angst nieder. Schaute zu Boden, machte ein paar Schritte in den Raum hinein. Stellte die Kerze ab, sah in die Flamme, die hell in die Dunkelheit leuchtete. Flüsterte: ‚Ins Licht‘. Drehte sich um, schloss die Tür, stieg die Treppe hinunter. Hörte die Schritte über ihm, die langsam verebbten, er konnte nicht sagen, wie lange es dauerte. Machte kein Auge zu in dieser Nacht.
Wünschte ihr, dass sie ins Licht fand. Mehr konnte er nicht tun.