Marillenblüte in der Wachau

Gastbeiträge

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Im gut besetzten Speisewagen ist nur noch der Platz neben mir frei. Der beleibte, schnaufende Herr aus meiner Alterskohorte findet es nett, dass ich nichts dagegen habe, wenn er sich da hinsetzt.
Redselig ist das Adjektiv, das zu meinem neuen Nachbarn am besten passt. Gewöhnlich sei um diese Zeit wenig los hier, meint er. Ob es heute etwas gratis gebe? Er lacht über seinen Scherz und muss husten. Als er sich gefangen hat, teilt er mit mir seine Befürchtung: Es schaue so aus, dass da wieder ausländisches Personal bediene, das zwar freundlich, aber leider unfähig sei. Was er hier schon alles erleben hat müssen, gehe auf keine Kuhhaut. „Die verstehen oft kaum Deutsch. Unglaublich.“

Ich nehme mein Buch zur Hand und versuche, mich durch Lesen zu schützen. Vergeblich. Ihn gelüstet es, mir einschlägige Beispiele zu servieren, bis er höflich nach seinem Wunsch gefragt wird. Ein Vierterl Weißwein. Er gibt sich überrascht, dass das Bestellte kurz darauf tatsächlich vor ihm steht und nicht etwa Rotwein oder gar eine Suppe. Aber beim Zahlen werde er sicherlich wieder mehrmals urgieren müssen. Er sagt wirklich urgieren.
Der Weißwein wird es gewesen sein, der ihm eine Assoziation beschert hat und ihn jetzt das Smartphone zücken lässt. Ob ich diese wunderbare App schon kenne? Er hält mir ein Bild von einem blühenden Zweig unter die Nase. „Marillenblüte in der Wachau“, sagt er. „Echtzeit. Da kann man buchstäblich zuschauen, wie die Natur sich entfaltet. Ist schon wunderbar, was man heute alles bequem genießen kann.“
Ich nicke, glaube ich, ganz leicht, wende mich von der Herrlichkeit ab, nippe am Kaffee und lese weiter. Das heißt, ich habe überhaupt noch nicht gelesen, wie sollte ich auch? Ich starre also weiter die aufgeschlagenen Seiten an, während er sich an seiner Zweigapp weidet und kurz verstummt. Dann schenkt er sich den Veltliner ein. „Zum Wohl“, meint er.
Zum Genießen gehört für mich im Falle der Marillenblüte die wärmende Frühlingssonne auf der Haut, das Bienensummen, der Duft, die umgebende Landschaft, die Bewegung in ihr, mit einem Wort: Sinnlichkeit. Nie im Leben würde ich mittels einer noch so wunderbaren App einem erblühenden Zweig beim Erblühen zuschauen.
Ich ertappe mich dabei, den Menschen neben mir fragen zu wollen, was zum Teufel er an diesem Digitalangebot so faszinierend findet, und verbiete es mir gleich wieder. Denn noch viel mehr sehne ich mich danach, dass er endlich Ruhe gibt.
„Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich mit Ihnen ein bisschen plaudere“, sagt er jetzt gut gelaunt. „Da vergeht die Zeit im Zug wie im Flug, nicht?“

Ludwig Laher ist Schriftsteller und pendelt regelmäßig per Bahn zwischen seinen Wohnsitzen St. Pantaleon an der bayerischen Grenze bei Salzburg und Wien.
Er schreibt neben Arbeiten für Radio und Fernsehen Romane, z. B. Herzfleischentartung (2001), Und nehmen was kommt (2007), Einleben (2009), Verfahren (2011), Bitter (2014), Überführungsstücke (2016), Lyrik, z. B. feuerstunde (2003), was hält mich (2014), Essays, z. B. Ixbeliebige Wahr-Zeichen. Über Schriftsteller-„Hausorthographien“ und amtliche Regel-Werke (2008; einbegleitet von Elfriede Jelinek), Wo nur die Wiege stand (2019), Heiter. Bedeckt (2022).
Ludwig Laher
Ludwig Laher (Wikipedia)

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Ludwig Laher, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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