Muskelspiel

Aus dem Alltag

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Das gibt’s doch nicht. Jetzt hat er schon wieder getroffen, der Hans Krankl. Er hat es nicht verlernt, das Tore schießen, auch beim Wiener Sport-Club nicht. Nur dieser junge Toni Polster, der ist nicht einzuholen in der Schützenliste. Aus dem könnte vielleicht mal was werden.
Auch wenn er Austrianer ist.

Der Schlusspfiff setzt dem Spiel ein Ende. Ich stehe auf, gehe die paar Schritte bis zum Radio und verabschiede mich mit rustikalem Tastendruck von ‚Sport und Musik‘. Während der aufgeregte Reporter abrupt verstummt, springt das Kühlaggregat der Tiefkühltruhe an und füllt den Raum mit dumpfem Brummen. Wo Menschen sind, ist Lärm nie weit, denke ich mir. Draußen ist es dämmrig geworden, die Nacht flutet den Tag, raubt ihm schamlos das Licht und lässt nur verschwommene Schemen zurück. Ein Vogel schießt über das Garagendach, er ist spät dran, verschwindet in der nahen Weide. Ich mache Licht und fort ist sie, die Welt, die vor dem Fenster lauert. Still stehe ich und sehe nur mein Spiegelbild. Das ist jetzt mäßig spannend. Aus dem oberen Stockwerk dringt ein unterdrückter Schrei. Metall schlägt auf Metall.
Mein Bruder ist am Werken. Er formt seinen Körper.

Ich steige die Treppe hoch, öffne die Tür und spüre die Aura frisch vergossenen Schweißes. Ich trete ein. Mein Bruder sitzt auf der Hantelbank und wischt sich mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht. ‚Der Krankl schießt den Sport-Club noch in den Europacup‘, sage ich zu ihm und schaue auf die gusseisernen Scheiben, die fein aufgereiht am Boden liegen. An der Langhantel hängen vierzig Kilo. ‚Aha‘, meint er und mir ist klar, dass diese Information zu nichtig scheint, um seine Großhirnrinde zu erreichen. Während er nach einer Wasserflasche greift, betrachte ich die Poster an den Wänden. Frank Zane, Samir Bannout, Lee Haney. Aha. Einen immerhin erkenne ich. Den Berühmtesten. Den, den jeder kennt. Fünfmal Mr. Universe, siebenmal Mr. Olympia, ein Brustkorb, der ein Rudel Löwen einschüchtern könnte.
Oder hungrig machen.

Die Regale sind voll mit Stehsammlern, die alle Ausgaben der ‚Sportrevue‘ seit den frühen Achtzigern zu beherbergen scheinen. Ich greife wahllos nach einem Heft, blättere es durch und starre fassungslos auf maßlos durchtrainierte Körper. Ein Blick auf meinen Bruder offenbart: Mister Universe hat nichts zu befürchten. Aus diesem Haushalt droht keine Gefahr. ‚Willst du’s nicht auch einmal probieren?‘, fragt mich mein Bruder und deutet auf die Hantelstange. Ich ringe mir ein Lächeln ab, das zwischen Qual und Irrsinn pendelt. ‚Überleg’s dir‘, meint er noch. ‚Wenn du jetzt zu trainieren beginnst, siehst du in fünf Jahren aus wie ein Bär.‘ Spricht es, greift nach seiner mit Sand gefüllten Ellipsenhantel und widmet sich beherzt seinem rechten Bizeps. Ich drehe mich um, verlasse den Raum, steige die Treppe hinab.
‚Wer will schon ein Fell haben?‘, denke ich mir.

Hans Krankl ist zurückgetreten, aus Toni Polster tatsächlich was geworden. Mein Bruder hat geheiratet und unser Elternhaus verlassen. Die Hochzeitsreise hat ihn in die USA geführt. Kaum gelandet, kauft er die aktuelle Ausgabe von ‚Muscle & Fitness‘. Was sollte einem frisch Verheirateten auch anderes am Herzen liegen? Die Zeit verging, eine Tochter kam. Eine Hantelbank war stets im Haus zu finden. Sie blieb nie lange ungenutzt.

Meine Nichte geht zur Schule, macht Matura, hört mit dem Lernen nicht auf. Zwei Mastertitel in der Tasche, einen davon in Wirtschaftsinformatik, gründet sie eine Werbeagentur. Eine kleine. Immer noch hungrig auf Neues absolviert sie die Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Fitness-Trainerin. Die jungen Leute sind ja so unausgelastet. Stößt auf das Konzept, dass verschiedene Muskelgruppen unterschiedliche Regenerationszeiten brauchen. Mein Bruder stutzt. Das kennt er, das hat er schon gelesen. Es ist lange her. Er beginnt zu suchen in seinem Archiv, das ist nicht klein. Findet den Artikel, kann es kaum glauben.
Er hält die Ausgabe von ‚Muscle & Fitness‘ aus dem Jahr 1992 in der Hand.

Eine Idee war geboren, ein gemeinsames Projekt. Ein Softwareentwickler, eine Wirtschaftsinformatikerin tun sich zusammen, entwickeln ein Programm. Ein bedienerfreundliches, informatives. Sinnvolles. Das muss man schon können. Der Gedanke dahinter: wer Bizeps, Trizeps, Latissimus und was weiß ich gezielt trainiert, der sollte wissen: wie lange braucht der Muskel zum Erholen? Wann habe ich den größten Trainingserfolg? Welche Übungen würden mir heute nur schaden? Wer Antwort sucht und sich nicht haltlos in Tabellen stürzen will, dem kann geholfen werden.
Leicht sogar.

‚Gar nicht im Keller heute? Wird die Hantelbank da nicht einsam sein?‘, frage ich meinen Bruder. Ich stehe im Vorzimmer, das Handy mit der rechten Schulter ungelenk am Ohr verkeilt, und suche nach meinem Kalender, der sich listig in meiner Aktentasche versteckt hält. ‚Heute nicht‘, meint mein Bruder und beißt ungerührt in etwas, das wohl essbar ist. ‚Weißt du‘, sagt er, ‚manchmal ist das beste Training: gar kein Training‘.
Man muss nur wissen wann.

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