Unerhört

Aus dem Alltag

Written by:

Views: 837

War da einer, der in Lumpen ging, einen Stock in der Hand, eine Mütze am Kopf. Der durch die Straßen schlich, tagein, tagaus, von Umkehr sprach und Nächstenliebe. Ein Landstreicher, sagten die einen, ein Narr, die anderen. Ein Weiser vielleicht, sagte keiner.

Helft, wo ihr helfen könnt, gebt, was euch nicht fehlen wird, riet er den Leuten, die derlei Worte nur in der Kirche gewohnt waren oder aus dem Mund eines Toren. Weltfremd sei er, schmähten sie ihn, arbeitsscheu, verrückt. Wo käme man hin, wenn man gäbe und gäbe, wo hätte die Güte ein Ende, wem würde sie gelohnt? Groß war die Wut unter den Menschen, nackt die Moral. Welchen Lohn erwartet ihr? fragte er. Welches Gewicht wöge die Seele auf? Wer glaubt er, dass er sei? fragten sie ihn. Sieht er denn seinen Irrsinn nicht? Köpfe wurden geschüttelt, Augen gerollt. Ratlos ging man auseinander.

Der Mann aber blieb. Wovon er lebte, wo er schlief, was er aß, man wusste es nicht. Wer auf ihn traf, auf einem der Plätze, im Gewirr der alten Gassen, auf den Stufen des Doms, wo er im Schatten der Linde hockte, die Tauben besah und die Menschen, der schritt rasch aus, verschloss seine Seele. Teilt, rief er unbeirrt, achtet einander. Verspottete ihn einer, gab er kein böses Widerwort. An einem Septembermorgen, in jenem Moment, als die Sonne zu wärmen begann, sprach ihn ein Mädchen an.

Wieso hassen sie dich? fragte sie.
Sie hassen mich nicht, erwiderte er. Sie wollen bloß nicht hören, was sie nicht glauben können.
Das Mädchen rieb sich die Nase, legte die kleine Stirn in Falten. Aber was ist es, das sie nicht glauben können?
Dass sie an meiner Stelle sein könnten, sagte er.
Sie sah ihn an und lächelte, berührte, kurz nur, seine rechte Schulter, zog die Hand zurück, machte kehrt, lief über den Platz, drehte sich, dreißig Schritte entfernt von ihm, um, strahlte ihn an, schlüpfte dann ins Dunkel einer schmalen Gasse.

Tags darauf war der Mann verschwunden.

Dieser Text wurde in der Literaturzeitschrift Der Fliegenpilz (Ausgabe No. 4) veröffentlicht.

Comments are closed.