So still war die Welt, als er die Augen aufschlug. So sanft. So grün. Einen Moment, dass er Frieden fand zwischen den dunklen Träumen der Nacht und der Angst, der Hast, den Strapazen, in die der Tag ihn stoßen würde, bis ihn ein Sonnenstrahl blendete, der sich, irgendwie, durch Baumwipfel und Strauchwerk zwängte, ihn der Eintracht des Halbschlafs entriss. Er musste blinzeln, hielt sich die Hand vors Gesicht. Wie weit noch? fragte er sich, spürte die Schmerzen in seinem Bein. Die Grenze musste nah sein, dachte er. Hoffte es. Kurz, dass er die Augen schloss, ein Gebet murmelte, an die Schwestern dachte, die Mutter, die Großeltern. An den Vater, der tot war, womöglich.
Da lag er also, im Wald, in dieser Mulde, in die er geflüchtet war am Abend zuvor, als er die Schüsse gehört hatte. Aus der er sich nicht wagte, die ganze Nacht über nicht, weil die Angst die Oberhand gewonnen hatte über den Verstand, der doch gebot: Geh im Schutz der Dunkelheit! Er konnte es nicht. Wo waren die anderen? fragte er sich. Ob sie es geschafft hatten? Ob einem von ihnen die Kugeln galten? Er griff zur Wasserflasche, trank hastig, verschüttete ein wenig, da die Hand zitterte, die die Flasche hielt. Als er getrunken hatte, musste er an die Worte denken, die der Mann mit den kalten, dunklen Augen gesagt hatte, einmal bloß: Wenn ihr Schüsse hört, haltet euch von der Grenze fern. Wartet, versteckt euch im Wald. Dort werden sie nicht nach euch suchen. Warum? hatte einer gefragt, gleich wieder geschwiegen, zu Boden gesehen. Eine Antwort erhielt er nicht.
Als er den Ruf eines Vogels hörte, stand er auf, wischte das Laub von der Kleidung, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er hob den Kopf und suchte die Sonne. Dort, dachte er. Dort musste die Grenze liegen. Er ging los, humpelte ein wenig. Ob es stimmte? fragte er sich. Dass die Zäune schadhaft waren. Dass man es schaffen konnte, wenn man ein wenig Glück hatte. Glück? dachte er also und schüttelte den Kopf – was war das? Mit den Freunden an einem Tisch zu sitzen und zu reden, trinken, scherzen bis die Sonne aufging? Oder durch einen Wald zu irren, auf der Suche nach einer Grenze, einem Loch im Stacheldraht, einer Zukunft gar, weil es den Tisch, die Freunde, die Heimat nicht mehr gab? War bloß am Leben zu sein schon: Glück? In derlei Gedanken verloren, kam er an eine Stelle, da der Wald endete, überraschend, abrupt, in einen breiten, mit niedrigem Gras bewachsenen Streifen überging. Er blieb stehen, suchte Schutz im Unterholz, schaute. Keine zwanzig Meter vor ihm: der Grenzzaun. Das Loch darin, mannshoch beinahe. Glück, dachte er, schaute, horchte, sah niemanden, hörte keine Stimmen, kein Hundegebell. Also trat er aus dem Wald.
Mit einem Mal ein Schuss, der fiel, ganz nah. Er lief, stürzte, stand auf, lief weiter, drehte sich nicht um, kein einziges Mal. Er lief und lief, bis er ins Dickicht eines Fichtenwalds tauchte, eine Höhle entdeckte, die ihm Schutz bot und Rast. Eine ganze Weile, dass er blieb, bis ihn ein weiterer Schuss, ferner nun, aus der Höhle trieb, weg von der Grenze, dem Stacheldraht, der Todesangst. Ins Ungewisse lief er, stolperte er, humpelte er, wusste um die Hoffnungslosigkeit des Gewissen. Bald, dass er einen Weg fand, ihm folgte, über eine Kuppe kam, ein Dorf sah. Er blieb stehen, tat drei tiefe Atemzüge. Ging dann, langsamer nun, die Hände gut sichtbar, die Gasse hinunter, kam ins Dorf, sah dort drei Frauen, die auf einer Bank saßen, im Schatten einer alten Linde. Guten Tag! sagte er, sagte es in seiner Sprache, senkte den Kopf. Mehr wusste er nicht zu sagen.
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