Zwei Leben in Deutschland

Aus dem Alltag

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Hans hat kein Glück. Gleich wird er entdeckt werden. Es ist unmöglich, dass er nicht entdeckt wird auf diesen vier Quadratmetern. Unmöglich.
Er liegt am Boden, hält den Atem an. Spürt, wie der Staub in seiner Nase kitzelt. Starrt auf die Matratze, die über ihm hängt. Ganz nah. Die Matratze, auf der die beiden Männer sitzen. Die beiden Männer, die sein Tod sein werden.

Er ist achtzehn Jahre alt.
Er ist Jude.
Er ist Deutscher.

Seit zwei Jahren ist er auch: Waise.

Der Tod der Mutter: Darmkrebs. Mit dem Bruder Gert, neun Jahre erst, ins Waisenhaus. Er will seinen Bruder beschützen, kann es nicht. Niemand kann das.
Gert wird deportiert.

Hans hat Glück. Empfindet es nicht so. Weiß, dass Glück mehr sein muss, als: der Gestapo entkommen. Dem Transport.

Am 27. März 1943 betritt Hans die Laubenkolonie „Dreieinigkeit“ in Berlin-Lichtenberg. Er läutet an der Tür von Ida Jauch. Die Adresse hat er von seiner Großmutter. Sie hatte gesagt: Geh zu ihr. Sie ist kein Nazi.
Ida Jauch öffnet die Tür. Hört ihn an. Sagt: komm herein.

Sein Versteck: vier Quadratmeter groß. Ein Tisch, ein Sessel. Eine Matratze, die auf vier Holzblöcken liegt. Ein winziges Fenster, verhängt mit einer Tüllgardine. Dahinter: die Hühner im Garten, ein Baum. Die Welt.

Die Essensrationen reichen kaum für einen. Ida Jauch sorgt dafür, dass sie für zwei reichen. Reichen müssen.

Emma Harndt weiß. Hilft. Schenkt ihm ein Detektorradio. Hans hört Joseph Goebbels reden. Fragt sich: was ist das für ein Mensch? Bald weiß er: wenn er überlebt, wird er zum Rundfunk gehen.
Es anders machen.

Irgendwann eine Fliegerbombe im Garten, die alle Fenster bersten lässt. Ida Jauch geht zur Kreisleitung, beantragt neue Fenster. Ohne die Partei kein Glas.
Es ist Winter.

Unangekündigt zwei Männer vor der Tür. Von der Kreisleitung geschickt. Den Schaden inspizieren. Einlass bitte.

Hans liegt am Boden, hält den Atem an. Spürt, wie der Staub in seiner Nase kitzelt, bald wird er niesen müssen. Er starrt auf die Matratze, die über ihm hängt. Die Matratze, auf der die beiden Männer sitzen. Reden. Endlos reden. Dann hört er die Matratzenfedern quietschen. Einer verändert seine Position. Sitzt jetzt auf seiner Brust.

Hans hat kein Glück. Gleich wird er entdeckt werden. Es ist unmöglich, dass er nicht entdeckt wird. Er sieht kreisende Sterne, dann wird ihm schwarz vor Augen. Die Männer stehen auf, verlassen den Raum.

Hans hat Glück.

Hans hat Pech. Ida Jauch stirbt unerwartet. Er muss sein Versteck verlassen. Nach einem Jahr. Zu Emma Harndt kann er nicht. Kommunistin. Die Gestapo immer nah. Eine andere Nachbarin hilft. Maria Schönebeck.
Wie viele Schutzengel braucht es, um zu überleben?, fragt er sich.

Drei. Es sind drei.

Hans geht zum Rundfunk. Macht es anders.

„Dalli Dalli“ wird zu einer der beliebtesten deutschen Quizshows. Ihr Moderator ist Hans Rosenthal.

Die Redewendung „dalli, dalli“ stammt aus dem Kaschubischen und Polnischen. Es bedeutet weiter, los, beeil dich.

Jene Wörter, die viele SS-Männer riefen, wenn sie die Menschen aus den Waggons in die Lager trieben.

Gert Rosenthal wurde drei Tage nach seiner Deportation im KZ Majdanek ermordet. Er wurde zehn Jahre alt.

1950, im Alter von 25 Jahren, lernt Hans Rosenthal im Stadtbad Schöneberg schwimmen. In seiner Jugend war es Juden nicht erlaubt, öffentliche Bäder zu besuchen.

Das Stadtbad Schöneberg trägt heute seinen Namen.

1980 veröffentlicht Hans Rosenthal seine Autobiografie „Zwei Leben in Deutschland“. Das Buch trifft auf eine Öffentlichkeit, die von den geschilderten Erlebnissen überrascht ist.

Hans Rosenthal legt alle antisemitischen Schreiben, die ihn im Lauf seiner Karriere erreichen, in einem Ordner ab. Der Ordner ist sehr dick.

Kurz vor seinem Tod vernichtet er ihn.

„Dadurch, dass ich in der schrecklichsten Zeit drei Frauen gefunden habe, die für mich ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, bin ich ohne Ressentiments. Wissen Sie, ich habe in der schlimmsten Zeit auch das gute Deutschland kennengelernt.“
Hans Rosenthal

Ida Jauch. Emma Harndt. Maria Schönebeck.

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